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Baby-Tagebücher von Antje

Hautnah. Intensiv. Liebenswert. Folgt hier den Babytagebuch-Bloger:innen und erlebt regelmäßig, wenn frischgebackene Mütter und Väter ihr Leben mit euch teilen. Jede Woche lassen sie euch an ihrer neuen Lebenszeit mit Baby teilhaben und geben ganz persönliche Einblicke: Was hat der Sprössling diese Woche Tolles gelernt? Wie geht es den jungen Eltern mit dem kleinen Knirps? Welche Herausforderungen begegnen den Neu-Mamas und Neu-Papas mit ihrem Neugeborenen? In den Baby-Tagebüchern seid ihr live dabei, von ersten Arztbesuchen bis zu holprigen Gehversuchen. Ob liebenswert chaotisch oder rührend besinnlich: Immer erhaltet ihr einen unverfälschten, authentischen und persönlichen Einblick in das aufregende Leben einer Jungfamilie.

42. Woche

Aus der Mitte gefallen

... Beschreibung einer Gefühlslage

Dienstag, gegen 11.00 Uhr mittags

Johann liegt neben mir im Bett. Schnauft ab und zu und nuckelt an seinem Schnuller. Wenn er träumt, öffnen sich seine Augenlider immer wieder ein wenig und die Pupillen bewegen sich schnell hin- und her.

Ich fühle mich so aus der Mitte gefallen.

Johann hat seit Freitag keine guten Nächte gehabt. Fast stündlich wachte er auch und weinte. Bis vier konnte ich ihn hinhalten: Köpfchen streicheln. Schnuller geben. Ab vier drückte er seinen kleinen Körper ganz eng an meinen und wollte immer wieder an der Brust getröstet werden. Schlafmangel. Total. Bei meinem Mann. Bei mir. Bei Johann. Auch tags findet er nur schlecht in den Schlaf. Ist unruhig. Zahn Nr. 2 kündigt sich an. Heute Morgen habe ich im Halbschlaf seinen Hinterkopf massiert. Dabei hatte er sein Köpfchen in meinem Schoss gelegt und leise vor sich her gebrabbelt. Ich möchte mir gerade nicht vorstellen, wie es ihm geht, sobald die Backenzähne im Anmarsch sind. Bin durch den wenigen Schlaf gereizt, erschöpft. Ich fühle mich aus der Mitte gefallen.

Beim gemeinsamen Familienessen flippt Johann zurzeit oft aus. Wird wütend. Wird ungehalten. Schreit. Von allem möchte er probieren: Salat, Tomaten, Brot, selbstgebackenes Toastbrot, Ei, Quark, Kinderstreich, Gurke…. Meist steht er regelrecht in seinem Stühlchen, wedelt wie verrückt mit den Händen und zeigt mal nach links, mal nach rechts und schreit entrüstet, wenn man ihm nicht genau das Richtige gibt. Gebe ich ihm eine Scheibe Toastbrot mit Kinderstreich, belege mein Brot aber mit etwas völlig anderem, wird er wieder unruhig, steht auf, guckt mir das Essen weg und wirft sein Brot weg. Sage ich nein, beginnt ein unglaubliches Wutgeheul. Ich habe mir gestern eine neue GebärdenApp runtergeladen, da ich mich mit den Gebärden für Essen kaum auskenne. Unsere Große interessierte sich vorwiegend für Tiere. Ist Johann halbwegs satt, prustet er sein Essen und Trinken wieder aus. Gestern hängte er sich mit dem Oberkörper ganz weit über das Stühlchen, den Kopf nach vorn zum Trittbrettchen gebeugt, prustete, hustet und versuchte die Essensreste herauszuwürgen. Glücklich über den Erfolg versuchte er mit dem Essensmatsch, Figuren auf das Trittbrettchen zu malen. Fühle mich mit meinem Mann aufgrund dieses Verhaltens am Abendbrottisch – Es ist unsere eigentlich einzige gemeinsame Familienmahlzeit – gestresst. Auch unsere Tochter sagt oft ganz laut und wütend: „Johann, nicht spucken. Hör auf deine Schwester!“ Fühlen uns alle zurzeit irgendwie aus der Mitte gefallen.

Bin zurzeit immer wieder erstaunt, was Johann mittlerweile alles kann. Gebe ich ihm einen Löffel mit Brei, nimmt er mir diesen ab, führt ihn zielsicher zum geöffneten Mund und reicht ihn mir mit dem Wort „Daa!“ wieder zurück. Zu meinem Leidwesen kann er nun auch sehr schnell und geschickt Treppen hinaus- und hinabklettern. Muss beim Babyschwimmen und im Gemeindesaal jetzt immer ziemlich auf der Hut sein.
Ich bin zurzeit auch immer wieder oft verdutzt, was Johann mittlerweile alles kann. Ärgere mich über geöffnete Wäschekörbe mit schmutziger Wäsche davor. Hatte schon meinen Mann im Verdacht. Gestern beobachtete ich zufällig Johann, wie er kniend den Deckel vom Korb hochhielt, um darin nach Wäsche fischte. Das gleiche Spiel am Mülleimer, wenn ich nicht schnell genug bin. Auch den Windeleimer bekommt er jetzt am Sicherheitsverschluss aufgedrückt und kramt sehr gern in den dreckigen Windeln, wenn ich gerade nicht gucke. Seit einigen Wochen fühlte er sich magisch von der Toilette angezogen, hob gern den Deckel und die Brille hoch, um kräftig ins Klo zu langen. Alles nicht sehr schön! Haben jetzt eine Klosicherung angebracht, die leider unsere Tochter auch noch nicht aufbekommt, wenn sie schnell mal muss. Gestern fand ich auf dem Küchenboden eine aufgeschraubte Popo-Cremetube. Auch Johann? Seit letzter Woche verstellt er mir gern das Waschmaschinenprogramm, wenn ich noch weitere Wäsche aus dem Wäschekorb hole. Zum Glück sind die Herd- und Spülmaschinenknöpfe für ihn zu schwer zu drehen und zu drücken. Gern öffnet er Schubladen, kramt darin herum. Zieht Kabel aus der Steckdose, aus dem Notebook, aus dem Handy und versucht daran zu nuckeln. Nehme ich ihm diese Sachen schnell aus der Hand, beginnt ein ziemliches Wutgeheul. Nichts scheint er vor ihm sicher zu sein. Heute Morgen wedelte er solange an der Malablage seiner Schwester, bis die Federtasche auf den Boden fiel, öffnete den Reißverschluss (!) und steckte sich die Stifte genüsslich in den Mund.
Bin manchmal auch einfach verwirrt, was Johann mittlerweile alles kann. Vorhin richtete er sich nach dem Wickeln auf die Kommode auf und zog so lange kräftig an seiner Windel, bis er sie ausgezogen hatte. Socken und Mützen kann er schon seit einiger Zeit ausziehen. Jetzt bekommt er auch sein Ärmellätzchen aus. Ich komme kaum hinterher, Schaden zu verhindern. Johann wirkt zurzeit wieder so tatendurstig, so schnell, so unruhig, so aus der Mitte gefallen.

Johann ahmt uns immer mehr nach. Streicht sich mit der Bürste über den Kopf. Winkt, wenn jemand „Tschüss!“ sagt mit der Hand, klatscht bei Liedern mit, pustet, wenn wir pusten. Sagt „Bäh!“, wenn wir es tun. Jault wie ein Indianer mit der Hand vor dem Mund, wenn es ihm seine Schwestern vormacht. Reicht mir Sachen mit dem Wort „Da!“. Sehe ich, dass er sich wieder am Fernseher oder an einem achtlos herumliegendes Handy zu schaffen macht, sage ich oft mit erhobenem Zeigefinger „Johann! Oh-o!“. Daraufhin lässt er die Sachen los, wedelt grinsend mit dem Arm „Ooo-hoo-o!“ und krabbelt dann oft - aber leider nicht immer - weg, um sich eine neue Beschäftigung zu suchen. Suche ich ihn in der Wohnung, weil er mir beim Mittagkochen oder Wäschewaschen aus dem Raum entwischt ist, guckt er mich fragend an, sobald ich ihn gefunden habe. Auf meine Frage: „Was machst du da, Johann?“, streckt er mir entweder die Arme mit geöffneten Handflächen entgegen und macht „ Hm?!“ so als wolle er sagen: „Alles gut. Ich habe nichts gemacht.“ oder er zeigt mir mit einem „Da!“ stolz seinen Fund. Im Vergleich zu seiner Schwester damals kann er schon unheimlich viel. Irgendwie ungewöhnlich. Bedeutet das auch aus der Mitte gefallen?
Unser letztes Wochenende war irgendwie ganz anders als sonst: Ich habe fast nur Zeit mit meiner Tochter verbracht. Kinderschwimmen. Zirkusbesuch. Ausflug. Minigottesdienst. Johann blieb die ganze Zeit bei seinem Papa. Unsere Große genoss die viele exklusive Mama-Zeit in vollen Zügen. So nah habe ich mich ihr schon lange nicht mehr gefühlt. Auch mein Mann meinte am Sonntagabend auf der Couch zu mir: „Johann finde ich mittlerweile - auch wenn das eine kleine verrückte Nudel bleibt – einfach unheimlich süß. Er guckt immer so interessiert und verschmitzt. Und wenn mich sein Wutgeschrei auch manchmal ziemlich nervt. Irgendwie bin ich einfach stolz, dass er so einen starken Willen hat“ Papa und Sohn. Endlich vereint. Endlich in die Mitte gefallen.

Und nun noch eine letzte Episode: Aus der Mitte gefallen. Wirklich! Wahrhaftig! Das ist er mir vorhin – beim Einkauf – aus dem Einkaufswagen. Ich weiß selbst nicht, wie er es geschafft hat. Ich war mit dem Einkauf fast fertig, verharrte nur kurz bei den Sonderangeboten. An den Metallkorbregalen beugte er sich seitlich weit nach unten, zerrte und rüttelte wie verrückt daran rum. Plötzlich sah ich ihn nur noch stürzen. Salto rückwärts. Kopf ratschte an den Gittern entlang. Aufprall auf dem Boden mit dem Rücken zuerst. Zum Glück durch den dicken Winteranzug etwas abgefedert. Johann war vor Schreck ganz still. Augen weit auf. Mund weit auf. Atmen. Atmen. Dann totales Schreien. Weinen. Minutenlang. Meine Beine ganz zittrig. Johann hat sich wohl selbst mit Schwung aus dem Einkaufskorb herausgezogen. So muss es gewesen sein. Habe nur kurz seinen Kopf mit den blutigen „Kratzer“ und seine Kopfbeweglichkeit untersucht, habe dann schnell bezahlt und bin sofort nach Hause gegangen. Arnica Globuli für Johann. Rescue-Globuli für uns beide.

Jetzt hält er seine Vormittagsschlaf. Bestimmt nicht nur aus Müdigkeit. Darum sitze ich nun hier an seinem Bett, bewache seinen Schlaf und hoffe von Herzen, dass es ihm gut geht. Ich fühle mich noch immer total aus der Mitte gefallen.

PS:
Heute ist Mittwoch. Johann tobt wieder herum. Babyturnen, Laternenumzug von der Kita. Alles hat er gestern gut mitgemacht. Sogar der Nachtschlaf war endlich wieder lang und tief. Auch gut für mich. Bis auf die beiden langen Kratzer am Oberkopf sieht man nichts mehr. Ich hingegen fühlte mich gestern noch den ganzen Tag neben mir. Habe vorhin kurz bei Spiegel-Online hineingeschaut: „Donald Trump wird neuer US-Präsident!“ Hat in den „Swing-Staates“ bereits die Mehrheit. Bin fassungslos! Ein Land, wirklich komplett aus der Mitte gefallen!



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Kommentare von Lesern:

Yvonne, Berlin09.11.2016 19:21

Ja, du schreibst echt toll! Aber ist dieses Stimmungstief nicht normal zu dieser Jahreszeit? Nobembertrüb und grau, alles wird auf einmal so mühselig, 1000 Termine, einfach eine anstrengende Zeit! Aber auch da muss man ja durch :-)!

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Kristin, Jena09.11.2016 12:17

Toller Stil, liest sich für mich ganz prima!

Und am Ende bin ich froh, dass es dem kleinen Bruchpiloten gut geht.

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Judith , Jena09.11.2016 12:09

würde dich jetzt gerne mal drücken. Du bist eine großartige Mama!!!

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