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Patchworkfamilie: Da steckt Arbeit drin – aber auch eine Riesenchance

Irgendwann wünschen sich die meisten Alleinerziehenden eine neue Beziehung. Haben beide bereits Kinder, wird´s bunt! Und klar: Knallen kann es auch. Aber wenn alle offen, reflektiert und neugierig das Familie-Werden mit gestalten, kann´s gelingen.

In diesem Artikel:

Wenn sich der Ex-Partner wieder bindet

Und dann kam der Tag, an dem Martin* eine Neue hatte. „Obwohl wir beide die Trennung gewollt hatten, war das für mich erst einmal nicht einfach“, erinnert sich Anna. Weil die 34-jährige Theaterpädagogin aus Braunschweig zu diesem Zeitpunkt selbst noch Single und alleinerziehend war, konnte sie sich nicht wirklich für ihren Ex-Partner freuen. Ihr Sohn Finn war vier, als das Paar sich trennte. Damals wie heute haben beide das gemeinsame Sorgerecht für den heute Elfjährigen.

Finn blieb nach dem Auszug von Papa Martin zunächst bei Anna. Heute lebt er im Wechselmodell sowohl bei Anna als bei Martin: Finn ist jeweils für eine Woche bei seiner Mutter und dann wieder bei seinem Vater. Bei beiden hat er sein eigenes Zimmer. Und jetzt auch eine eigene neue Familie: Denn Martin hat mit seiner Partnerin Julia inzwischen zwei weitere Söhne.

Katharina Grünewald

Dipl.-Psych. Katharina Grünewald (Foto: privat)

 

Und Anna? Sie hat ebenfalls wieder geheiratet und mit ihrem neuen Mann Patrick Tochter Lea bekommen. So hat Finn nun drei Halbgeschwister – verteilt auf die beiden Elternpaare und zwei Wohnungen. „Erst seitdem wir beide feste, neue Partner haben, funktioniert es wirklich", sagt Anna. 

Diplom-Psychologin und Buchautorin Katharina Grünewald kennt viele Fälle, in denen der eine weiter ist als der andere. Sie hat sich auf die Beratung von Patchworkfamilien spezialisiert.  

Du bist (noch) allein?  Hab Mitgefühl mit dir! 

„Wenn es einem nicht so gut geht, weil man noch gekränkt oder erschöpft ist, ist der erste Schritt, sich ernst zu nehmen, Mitgefühl mit sich zu haben – und damit meine ich jetzt nicht Selbstmitleid nach dem Motto „Ich armes Opfer“ und „Der andere ist schuld“ –, sondern dass man anerkennt, dass es jetzt eine schwierige Situation ist. Je mehr ich mir erlaube, mit mir mitzufühlen, umso eher kommt auch der Impuls, etwas Schönes für sich selbst zu tun.“

Ungefähr zwei Jahre hat es nach der Trennung gedauert, bis Anna und Martin miteinander Frieden schließen konnten. „Die Neue“ zu akzeptieren, fiel Anna zunächst nicht leicht. Sie war sich unsicher, ob Martins neue Frau Julia ihrem Sohn Finn auch wirklich gut tat. Doch dann, sagt Anna, habe sie beschlossen, über ihren Schatten zu springen und einfach mal positive Signale zu setzen. Und so lud sie ihren Ex-Partner samt neuer Partnerin zu ihrer Hochzeit mit Patrick ein. Das brachte die Wende: „Martin und Julia sind danach auch auf uns zugekommen. Heute verstehen wir uns alle super!“

Buchtipp

In ihrem Ratgeber Glückliche Stiefmutter. Gut zusammen leben in Patchworkfamilien zeigt die Psychologin Katharina Grünewald Zwickmühlen in heutigen Patchworkfamilien auf. Anhand zahlreicher Beispiele aus dem Alltag entwickelt sie Antworten. So erhalten Frauen viele praktische Anregungen: Denn eine selbstbewusste Haltung als Stiefmutter ist die beste Voraussetzung für ein gesundes und erfüllendes Familienleben. Mit einem neuen Kapitel mit vielen praktischen Impulsen.

 Unsere Expertin (Porträtbild)

Diplom-Psychologin Katharina Grünewald hat sich auf die Beratung von Patchworkfamilien spezialisiert. Mehr Informationen unter www.patchworkfamilien.com

 

2018 im Herder Verlag erschienen,
ISBN 978-3-451-60067-8, 18 Euro

Gemeinsames Familienleben aufbauen

Allen zusammen gelang es, mit der Zeit ein gemeinsames Familienleben aufzubauen. So hatten die drei Kleinkinder sogar dieselbe Tagesmutter und besuchten auch dieselbe Kita-Gruppe. „Seitdem haben wir viel Kontakt miteinander, wechseln uns mit dem Abholen der Kinder ab, verbringen auch Urlaube und Weihnachten miteinander.“ Dank der gemeinsamen Erlebnisse und Organisation des Alltags lernten sich Anna und Julia immer besser kennen. Julia als Stiefmutter ihres Kindes zu akzeptieren und ihr ihren Sohn anzuvertrauen, ist für sie heute selbstverständlich.

Und noch ein Bonus: Patrick, Annas neuer Mann und Finns Stiefpapa, ist begeistert, er hatte sich schon immer eine Großfamilie gewünscht. Mit der neuen Familienkonstellation ist sein Traum nun in Erfüllung gegangen. Wenn Anna und Patrick Sohn Finn zu seinem Vater und Julia bringen, essen sie alle gemeinsam und zelebrieren die „Übergabe“ regelrecht.

Perspektivwechsel als Schlüssel

Jetzt denkst du womöglich „Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein“ – doch diese Geschichte ist nicht erfunden. Und ja, es braucht seine Zeit, um über Verluste und Verletzungen hinwegzukommen. Psychologin und Patchworkfamilien-Beraterin Katharina Grünewald erklärt, wieso dieser Familienprozess so gut gelingen konnte. „Ein wichtiger Schlüssel dazu ist der vollzogene Perspektivwechsel. Damit meine ich in diesem Fall, nicht mit missgünstigen Blicken auf das Glück der anderen Familie zu schauen, sondern den Fokus auf die eigene Situation zu richten. Das hat Anna genau richtig gemacht: Sie ist aus dem Vergleich rausgegangen und hat ihr Ziel weiterverfolgt. Statt neidisch oder gemein zu sein, hat sie es geschafft, so zu sein, wie es ihrem Naturell auch entspricht: nämlich großzügig und offen.“

Geld ist der häufigste Konfliktpunkt nach Trennung

Zum Frieden trägt auch bei, dass es keinen Streit ums „liebe Geld“ gibt. Was daran liegt, dass alle Elternteile gut verdienen, weshalb es auch ohne Absprachen zum Unterhalt funktioniert. Sicherlich eine Luxussituation. Doch bis hierhin war es kein leichter Weg: „Als Martin und ich noch zusammen waren, hatten wir oft Diskussionen um die Frage, wer von uns mehr zahlt, wer mehr mit Finn unternimmt und mehr freie Zeit verdient hätte“, sagt Anna. „Nach der Trennung habe ich dann gemerkt, dass ich in schon in Mustern dachte wie etwa: Typisch, Martin zahlt wieder mal zu wenig und kümmert sich zu wenig. Da habe ich versucht dieses Mangeldenken umzudrehen und wieder mehr das zu sehen, was ich an Martin schätze.“

Auch hier liege der Schlüssel wieder in der Perspektivwechsel, bestätigt Katharina Grünewald. „Neben der gegenseitigen Akzeptanz gehören Diskussionen um das Finanzielle zu den häufigsten Konfliktquellen in Patchworkfamilien. In beiden Fällen hilft es, die Perspektive zu wechseln und sich zu sagen: Ich möchte den Frieden und mache es nicht von den anderen abhängig. Was kann ich selbst dafür tun? Beim Thema Geld in Beziehungen kommt noch hinzu, dass man es nicht einfach von der emotionalen Ebene abschotten kann. Da hilft es sich zu fragen: Was bedeutet Geld in diesem Zusammenhang für mich? Oft wird es zum Beispiel auch mit Wertschätzung oder Anerkennung in Verbindung gebracht. Auch darüber kann man miteinander reden.“

Der Stiefmutter vertrauen können

Ein weiterer Schlüssel ist Vertrauen – insbesondere auch der Stiefmutter gegenüber. So haben die beiden Patchwork-Paare auch bei unterschiedlichen Auffassungen eine Ebene gefunden – selbst beim Thema Impfen, das in vielen Partnerschaften für Streit sorgt. „Ich war eher dagegen“, sagt Anna, „Martin wollte aber gern, dass Finn geimpft wird. Hinzu kommt, dass Julia sich als Ärztin gut damit auskennt und es ebenfalls befürwortet. Also habe ich eingelenkt.“ Eine Situation, die durchaus Potenzial für Zündstoff gehabt hätte, wie Katharina Grünewald weiß. „Die neue Ehefrau ihres Ex-Partners als Stiefmutter und obendrein Ärztin entscheidet mit – hier hätte sich Anna auch in einen Machtkampf begeben können: Ich bestimme, ob mein Kind geimpft werden muss! Das ist oftmals ein Konflikt.“ Zu nachgiebig habe sich Finns Mama damit nicht verhalten, im Gegenteil.

Der Weg zur Patchworkfamilie ...

... ist oft etwas steinig, Konflikte gehören dazu. Doch die Mühe lohnt sich. Grob vollzieht sich das Zusammenfinden in vier Phasen, sagt Psychologin Katharina Grünewald.

Phase1: Gegenseitiges Kennenlernen
Das neue Elternteil lernt die alte Familieneinheit und ihre oftmals ganz selbstverständliche Familienlogik kennen. Gleichzeitig lernen die Kinder die neue Liebeseinheit kennen und können erleben, wie eine Liebesbeziehung auch aussehen kann.

Phase 2: Machtkämpfe und Positionsgerangel
In dieser Phase geht es oft wie in einem Boxkampf zu. Positionen und Plätze im Familiensystem werden ausgehandelt und oftmals brechen Konflikte auf, die noch zur alten Familie gehören. Es entsteht ein Wirr-Warr, ein Gefühlschaos, das mal mehr den einen oder mal die andere in den Mittelpunkt rückt. Diese Phase ist sehr wichtig und eine Herausforderung für jeder Patchworkfamilie. Hier geht es eher darum ein Miteinander zu entwickeln, das Konflikte aushält. Dann kann diese Phase zusammenschweißen und die Patchworkfamilie sehr gestärkt daraus hervorgehen.

Phase 3: Fügungsphase
Man hat Erfahrungen gesammelt, die wunden Punkte der anderen kennengelernt und hoffentlich die ein oder andere Methode entwickelt, miteinander in Beziehung zu gehen. Es wird ruhiger, Ambivalenzen und Loyalitätskonflikte treten jedoch weiterhin auf.

Phase 4: Etablierung
Hier weiß man um die Besonderheiten der eigenen Familie, die zusammengewürfelte, neue Familie hat eigene Selbstverständlichkeiten entwickelt und akzeptiert die Andersartigkeit der verschiedenen Mitglieder. Alles hat seinen Platz und Konflikte werden als kostbare Gelegenheiten wahrgenommen, bei denen man sich noch besser kennenlernen kann.

 

„Annas Verhalten zeugt von Vertrauen ihrem Ex-Partner gegenüber, der ja auch weiterhin mit ihr das Sorgerecht für Finn hat. Sie weiß, dass er gut prüft, ob alles auch wirklich mit bestem Wissen und Gewissen erfolgt. Es zeugt außerdem von einer Wertschätzung gegenüber seiner neuen Partnerin. Und das ist Gold wert.“

Jedes Familienmitglied muss seinen Platz finden

Aus ihrer Beratungspraxis kennt Katharina Grünewald noch einen weiteren typischen Konflikt in Patchworkfamilien: Eine unklare Zuordnung der Plätze und Positionen in der neuen Beziehungsstruktur. „Kinder geraten häufig mit auf die Entscheiderebene, beflügelt durch Schuldgefühle der Eltern. Neue Elternteile wiederum gehen oft mit den Kindern in Konkurrenz und kämpfen um den Platz an ‚Papas Seite‘“. Stattdessen rät die Expertin zur eindeutigen Rollenverteilung. „Die klassische Familienhierarchie mit einer Eltern- und einer Kinderebene macht hier durchaus erstmal Sinn. Das bedeutet, die Eltern bestimmen und regeln. Das Kind darf und soll Wünsche äußern, hat ein Recht darauf mit seinen Bedürfnissen, Ängsten und Sehnsüchten gesehen und verstanden zu werden, hat aber keine Entscheiderposition. Es ist auch eine wichtige Erfahrung, zu rebellieren, traurig zu sein oder auch mal ein Elternteil doof zu finden – solange das keine Auswirkungen hat auf die Kommunikation in der Elternebene ist das alles genau richtig. Und das bekommt Annas Patchworkfamilie offenbar ganz gut hin.“

Kein Abwerten, sondern Neugier auf das andere

Was sind also die Grundvoraussetzungen, damit das Patchwork-Modell funktioniert, so dass sich auch die Kinder wohlfühlen? Dazu Katharina Grünewald: „Wache, achtsame Erwachsene, die sich selbst, die anderen und die Welt nicht abwerten, sondern neugierig auf das „Andere“ sind. Eine weitere wichtige Voraussetzung ist das gemeinsame Entdecken-und-entwickeln-Wollen. Dann kann Patchwork zum Persönlichkeitscoaching für alle werden: Unabdingbare Qualitäten, die man erlernen kann und muss sind dabei: Empathie, Anpassungsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Eigenverantwortung, Kommunikations- und Konfliktlösefähigkeiten, Perspektivwechsel und Selbstfürsorge.“

Bonusfamilie, Bonusmama – eine zusätzliche Bereicherung

Die Bezeichnung „Bonusmama“ oder „Bonusfamilie“ sei im Sinne von zusätzlicher Bereicherung zu verstehen: „Es ist manchmal eine schwierige Bezeichnung, da man normalerweise einen Bonus auch weglassen kann, wenn man will. Das geht in einer Patchworkfamilie nicht. Oftmals wird das Bonuskind oder der Bonus-Elternteil als Bedrohung wahrgenommen. Ein wirklicher Bonus ist es, wenn man es schafft, es als Bereicherung zu sehen – wie zum Beispiel der neue Ehemann von Anna nun die zuvor vermisste Großfamilie“.

*Anna und Martin und alle anderen tragen in Wirklichkeit andere Namen.  

 

3 Tipps für Bonusmamas von Katharina Grünewald

1. Selbstfürsorge und Achtsamkeit entwickeln und üben!

Die Patchworkfamilie bietet ein voll umfassendes Trainingsareal für Selbstfürsorge. Es gibt viele Bedürfnisse und verschiedenste Kontexte, die es zu beachten gilt. Hier ist es wichtig, dass jeder lernt, seine eigenen Bedürfnisse zu artikulieren und auf diese zu achten. Dann kann man umso besser für die anderen da sein. Die Liebe kann dann zum nächsten und in die Familie fließen, wenn ich selbst gut aufgestellt bin und liebevoll mit mir umgehe.

2. Perspektivwechsel und Mitgefühl als regelmäßiges Familienritual einbauen!

Was der eine als Ungerechtigkeit empfindet, sieht durch die Brille eines anderen komplett anders aus. Wichtig wäre, nicht zu urteilen und eine Perspektive abzuwerten, sondern eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle Perspektiven ihre Berechtigung haben und Raum bekommen. Eine Lösung, die für alle gut ist, gibt es oft nicht, aber es fühlt sich gut an, wenn jeder spürt, wie schmerzhaft diese Situation gerade für mich ist und so lässt sie sich aushalten. Ich fühle mich aufgehoben und vielleicht gibt es sogar die Aussicht, beim nächsten Mal besonders beachtet zu werden.

3. Auseinandersetzungen wagen statt Trennung riskieren!

In Patchworkfamilien wird oft die vorherige Trennung tabuisiert. Nicht selten ist es ein traumatisches Erlebnis gewesen, an das man nicht gerne erinnert wird. Daher ist der Impuls da, jede Streiterei und jede kritische Situation direkt im Keim zu ersticken. Jeder strengt sich vielleicht sogar besonders an, um dieses Mal alles total harmonisch hinzukriegen. Dieser verständliche Impuls geht jedoch nach hinten los: Man schluckt runter, macht Fäuste in der Tasche, geht über seine Grenzen, bis es absolut nicht mehr geht. Dann explodiert ist und es bleibt nur noch die Trennung! Daher lieber direkt lernen, sich produktiv auseinanderzusetzen und Platz für alle Bedürfnisse zu schaffen als Harmonie um jeden Preis!