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Bahnbrechend für alle werdenden Eltern: Neue Leitlinie für vaginale Geburten

Die erste deutsche medizinische Leitlinie für vaginale Geburten wurde Anfang Januar 2021 unter Beteiligung von Eltern verabschiedet. Ihre Empfehlungen sind für Gebärende bahnbrechend. Sie stärken ihre Rechte rund um die Geburt und werden die geburtshilfliche Versorgung verbessern. Lies hier die komplette Pressemitteilung des Vereins Mother Hood e. V.!

In diesem Artikel:

Hebammen, Ärztinnen und Eltern ziehen an einem Strang

Erstmalig können sich Schwangere nun in einer S3-Leitlinie über empfohlene Behandlungen bei der Geburtsbegleitung informieren. Die Leitlinie “Vaginale Geburt am Termin” entstand federführend durch die Deutsche Gesellschaft für

Über Mother Hood e. V.

Bei Mother Hood e. V. setzen sich Eltern bundesweit für eine gute Versorgung von Mutter und Kind vor, während und nach der Geburt ein. Durch Kreißsaalschließungen, Personalmangel in Kliniken und Lücken in der Hebammenversorgung ist eine sichere Geburtshilfe nicht mehr überall gegeben. Zu den Hauptforderungen von Mother Hood gehört unter anderem die Sicherstellung einer Eins-zu-Eins-Begleitung durch eine Hebamme und die Wahrung des Rechts auf die freie Wahl des Geburtsortes .

Pressekontakt: Katharina Desery, E-Mail k.desery@mother-hood.de, Tel. 0163/ 7274735.

Hebammenwissenschaft (DGHWi) und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Mother Hood war als Patient:innenvertretung gemeinsam mit 16 weiteren Organisationen beteiligt.

Konkret bedeutet die Leitlinie, dass Frauen während der Geburt auf der Grundlage von wissenschaftlich begründeten Empfehlungen begleitet werden sollen. Frauen erhalten dank der Leitlinie verständliche Informationen, die sie mit ihrem Geburtsteam besprechen können. Sie können zustimmende oder ablehnende Entscheidungen zu medizinischen Eingriffen besser treffen.

Das Ziel: eine frauzentrierte und selbtbestimmte Geburt

Die Leitlinie unterstützt Frauen dabei, eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte selbstbestimmte Geburt zu erleben. Ihr Ziel ist eine frauzentrierte Betreuung. „Die Bedürfnisse und Rechte der Frau rücken ins Zentrum der geburtshilflichen Versorgung. Das ist wirklich bahnbrechend”, sagt Katharina Hartmann vom Verein Mother Hood, die an der Leitlinie mitgeschrieben hat.

Eins-zu-Eins-Betreuung: Heilige Kuh der technischen Überwachung geschlachtet

Das Wohlbefinden der Frau bei der Geburt und der respektvolle Umgang mit ihr werden in der Leitlinie erstmals als zentrale Faktoren offiziell anerkannt. „Immer wieder berichten uns Frauen, während der Geburt nicht gut behandelt worden zu sein”, sagt Katharina Hartmann. „So eine Behandlung entspricht ab jetzt nicht mehr den frauzentrierten Zielen der Leitlinie.”

Die in der Leitlinie empfohlene Eins-zu-Eins-Geburtsbegleitung wünschen sich viele Gebärende. Sie wirkt sich nicht nur auf das Wohlbefinden von Frauen aus, sondern ist auch medizinisch notwendig für die sichere Betreuung einer risikoarmen Geburt.

„Die heilige Kuh der CTG-Überwachung wurde damit geschlachtet”, kommentiert Katharina Hartmann die Empfehlungen zur Überwachung der Geburt. Sie soll nämlich, anders als bisher oft üblich, besser durch eine kontinuierliche Betreuung inklusive dem regelmäßigen Abhören der kindlichen Herztöne mit einem Dopton oder Hörrohr passieren. Das bisher häufig zur Überwachung angewendete Kardiotokogramm zur Aufzeichnung von Wehen, auch bekannt als CTG oder Wehenschreiber, bringt gegenüber dem Abhören der Herztöne keine Vorteile für Mutter und Kind.

Aus Elternsicht besonders wichtige Empfehlungen

Die Leitlinie gibt zahlreiche Empfehlungen zu medizinischen Maßnahmen während einer vaginalen Geburt. Dazu zählt beispielsweise das jetzt endlich für Frauen transparente, vergleichbare Vorgehen bei vorzeitigem Blasensprung.

Viele der Empfehlungen zum Umgang, Beratung und Aufklärung von Gebärenden klingen banal und selbstverständlich. „Doch wir wissen, dass in diesem Bereich noch Luft nach oben besteht”, sagt Katharina Hartmann.

Aus Sicht von Mother Hood ist daher die deutliche Nennung folgender Empfehlungen bedeutsam:

  • Zu einer frauzentrierten und sicheren Geburtsbegleitung gehört, die Bedürfnisse von Schwangeren, Gebärenden und Neugeborenen zu berücksichtigen.
  • Die Eins-zu-Eins-Begleitung der Geburt soll gewährleistet werden.
  • Frauen erhalten Zugang zu evidenzbasierten, also wissenschaftlich fundierten, Informationen, damit sie wohlüberlegt entscheiden können.
  • Die Gebärenden werden darin unterstützt, den Geburtsschmerz nach ihren Wünschen und anhand einer Bandbreite unterschiedlicher Maßnahmen zu bewältigen.
  • Frauen sollen zu allen Geburtsorten und Geburtsmöglichkeiten objektiv und ohne persönliche Sichtweisen und Urteile der Fachperson beraten werden.
  • Mütter sollen ermutigt werden, so bald wie möglich nach der Geburt Haut-zu-Haut-Kontakt zu ihrem Neugeborenen zu haben.
  • Alle relevanten Gesundheitsberufe in der Geburtshilfe sollen zusammenarbeiten.

Noch einige kritische Punkte 

Trotz des insgesamt bahnbrechenden Charakters der neuen Leitlinie sieht Mother Hood einige Punkte kritisch. Dazu zählen die Empfehlung zum Dammschnitt und zum Abnabeln sowie fehlende wissenschaftlich begründete Empfehlungen zum Schutz des Beckenbodens.

Einspruch: Sexuelle Gesundheit durch Dammschnitt in Gefahr 

Die Leitlinie spricht sich gegen routinemäßige Episiotomien (Dammschnitte) aus. Sollten sich Hebammen oder Gynäkolog:innen doch für einen Dammschnitt entscheiden, empfiehlt die Leitlinie eine bestimmte Schnittführung.

Mother Hood lehnt diese Empfehlung gemeinsam mit dem Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF) ab. Die beiden Vereine begründen das mit dem Fehlen eines tatsächlichen Nutzens für Mutter und Kind. Im Gegenteil birgt ein Dammschnitt die Gefahr, die weibliche Klitoris zu verletzen. Die sexuelle Gesundheit der Frau kann auch Jahre später deutlich beeinträchtigt sein.„Bei einem Dammschnitt handelt es sich um einen massiven Eingriff am Körper der Frau, der großen Schaden anrichten kann”,  sagt Katharina Hartmann. “Ihn dennoch durchzuführen, halten wir für hoch problematisch.”

Spätes Abnabeln besser

Wissenschaftlich erwiesen ist, dass mit dem Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt des Kindes einige Zeit gewartet werden soll. Die Leitlinie empfiehlt spätestens nach fünf Minuten abzunabeln. Die Entscheidung der Mutter länger zu warten, sollte respektiert werden.

Im Vergleich zu aktuell in manchen Kreißsälen festgelegten Standards, nach denen bereits sofort nach der Geburt oder innerhalb der ersten Minute abgenabelt wird, ist das eine sehr wichtige Empfehlung für Mutter und Kind.

„Wissenschaftliche Ergebnisse deuten schon jetzt darauf hin, dass es auch für Kinder mit Schwierigkeiten nach der Geburt deutlich besser sein könnte, wenn mit dem Abnabeln abgewartet wird”, erklärt Katharina Hartmann. „Kinder können bei intakter Nabelschnur sogar reanimiert werden, mit offenbar besseren Ergebnissen für ihre Gesundheit. Die Evidenz ist zwar noch nicht soweit. Doch wir sind zuversichtlich, dass wir in Zukunft in einer überarbeiteten Leitlinie die Empfehlung entsprechend anpassen können.”

Empfehlungen zum Schutz des Beckenbodens fehlen

Aus Sicht von Frauen sind Beckenbodenschäden infolge einer Geburt ein sehr drängendes Thema. Die Leitlinie hält keine wissenschaftlich begründete Empfehlung zum Schutz des Beckenbodens bereit. Dabei müssen vorbeugende Maßnahmen dringend besser erforscht werden, wie beispielsweise der Einfluss von Beckenbodentraining in der Schwangerschaft, geburtshilfliche Eingriffe wie die Zange und Saugglocke oder beckenbodenschützende Gebärhaltungen.

Wie es nun weitergeht

Die wissenschaftliche Zusammenarbeit aller an der Leitlinie beteiligten Organisationen ist mit der Veröffentlichung nicht vorbei. Forschungsprojekte haben sich ergeben, die nun weiter verfolgt werden können.

„Wir freuen uns, als Patient:innenvertretung dabei zu sein”, sagt Katharina Hartmann.

Noch ein paar Hintergrundinformationen

In den deutschsprachigen Ländern Europas (Deutschland, Österreich und Schweiz) wurden im Jahr 2019 über 957 000 Geburten registriert. Obwohl demnach jährlich fast zwei Millionen Frauen und Kinder betroffen sind, existierte bisher keine auf hohem Evidenzniveau beruhende Leitlinie zur vaginalen Geburt.

Die Empfehlungen in der aktuellen S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin” beziehen sich auf Gebärende und deren

Weiterführende Links

Link zur Mother Hood Pressemitteilung vom 8. Januar 2021

Link zur Leitlinie/ AWMF 

Link zur Pressemitteilung der Gesellschaften DGHWi und DGGG (Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e. V. (DGHWi) & Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG) )

Kinder, die zwischen der 38. und 42. Schwangerschaftswoche als Einling aus Schädellage, also “mit dem Kopf voran”, geboren werden. Leitlinien werden in vier Evidenzgrade eingeteilt: S1, S2k, S2e sowie S3. Die Einleitung geht auf die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) zurück. Ein hoher Evidenzgrad S3 einer Leitlinie liegt vor, wenn sie die höchste methodische Qualität mit umfangreicher Recherche und Überprüfung wissenschaftlicher Studien aufweist.

Eine weitere wichtige S3-Leitlinie bezieht sich auf den Kaiserschnitt und wurde im Juni 2020 veröffentlicht. Jene und die nun veröffentlichte Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin” sind derzeit die einzigen gültigen S3-Leitlinien zur Geburt.

Leitlinien haben Empfehlungscharakter und sind rechtlich nicht bindend.