Wenn Eltern sich Sorgen machen ...
Denise und Tom sind verzweifelt. Schon zwei Jahre ist ihre kleine Lisa-Marie alt und spricht noch kaum ein Wort. Ihr älterer Bruder konnte in diesem Alter bereits ganze Sätze bilden. Doch Lisa-Marie versteht alles, was die Eltern ihr sagen. Wenn sie etwas möchte, macht sie sich auch durch Laute und das Zeigen auf Dinge verständlich.
Ist das noch normal? Die Antwort: Ja. Denise und Tom brauchen sich keine Sorgen zu machen, zumal ihre Tochter schon früh laufen konnte.
Wann krabbeln und sprechen Babys?
Während einige Kinder bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres zu sprechen beginnen, kann es bei anderen bis ins dritte Lebensjahr dauern. Solche großen Unterschiede gibt es vor allem beim Sprechen, weniger beim Verstehen. „So wie Eltern erwarten, dass ein Kind mit einem Jahr die ersten Schritte macht, nehmen sie auch an, dass es mit zwei Jahren spricht. Doch genauso wie die motorische Entwicklung von Kind zu Kind unterschiedlich verläuft, setzt auch das Sprechen in unterschiedlichem Alter ein“, erläutert Remo H. Largo in seinem Klassiker„Babyjahre“.
Der 2020 verstorbene Entwicklungsspezialist und Kinderarzt hat mehrere Eltern-Ratgeber geschrieben. Er stellte fest, dass jedes Kind seinem eigenen Entwicklungsplan folgt, der in den Genen festgelegt ist – und dass es wichtig ist, den Kleinen dabei jeweils ihr individuelles Tempo zu überlassen, damit sie ihr Potenzial entfalten können.
Unsere Expertin
Die Göttinger Kinderärztin Dr. Tanja Brunnert hat eine eigene Praxis und ist stellvertretende Bundespressesprecherin des niedersächsischen Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ e.V.).
Entwicklungstempo beim Baby: Geschwindigkeit ist individuell
Doch welche Zeitspannen beim Laufen- oder Sprechenlernen sind noch okay? Dazu Dr. Tanja Brunnert, praktizierende Kinderärztin aus Göttingen: „Zu früh gibt es nicht. Die Sprachentwicklung setzt ja bereits mit der Geburt ein. Wir beobachten bei den Babys zunächst ein Quietschen, dann ein Lallen. Bis zum Alter von einem Jahr sollte das Kind Sprachlaute imitieren können, mit ungefähr 14 Monaten das Wort Mama oder Papa gezielt einsetzen.“
Aber, betont auch die Expertin: Auch wenn viele Kinder mit zwei Jahren schon zwei Wörter kombinieren können, ist dies keinesfalls ein Muss. „In diesem Alter ist die Spanne der Sprachentwicklung sehr groß. Dies bedeutet immense Unterschiede, die vielen Eltern Stress und Sorge bereiten.“
Krabbeln: Wenn dein Kind das Krabbeln überspringt
Oft ist diese Sorge völlig unbegründet. Sowohl bei der Sprache als auch der Grob- und Feinmotorik hält sich die Entwicklung nur selten an feste Regeln und Zeitspannen. Sie ist immer individuell unterschiedlich und hängt auch von der Förderung der Kinder ab. „Prinzipiell sind Vergleiche untereinander aber selten nützlich“, ergänzt Expertin Brunnert. „Es gibt Kinder, die bereits mit zehn Monaten laufen und andere halt erst mit 18 Monaten.“ Auch kommt es vor, dass manche Babys anfangen zu sprechen, aber noch nicht zu laufen – oder umgekehrt.
Krabbeln mit 4 Monaten? Krabbeln mit 6 Monaten? Oder gar nicht? Vielleicht beobachtest du auch, dass dein Baby die Krabbelphase überspringt und gleich anfangen möchte zu laufen. Was kann dahinterstecken?
Zunächst sei auch dies kein Problem, wie Tanja Brunnert bestätigt. „Circa fünf Prozent aller gesunden Kinder krabbeln nicht. Diese Kinder robben, ziehen sich in den Stand und beginnen dann zu laufen.“
Krabbeln fördern: Erst waagerecht, dann aufrecht
Überdurchschnittlich häufig krabbeln Kinder nicht, wenn sie als Säuglinge schon sehr früh hingesetzt werden. Diese Kinder beginnen dann, sich auf dem Po rutschend fortzubewegen und sich aus dieser Position hinzustellen. „Daher sollten Eltern den Kleinen von Beginn an viele Möglichkeiten zur Bewegung in der Waagerechten bieten, zum Beispiel auf einer Krabbeldecke“, rät die Kinderärztin.
„Babys sollten möglichst nicht hingesetzt werden, solange sie sich nicht selbstständig aufsetzen können. Denn oft geht dann der Anreiz für weitere Bewegung verloren.“
Entwicklung vom Robben zum Krabbeln fördern
Sie erklärt dies so: Babys sind in der sitzenden Position sehr zufrieden, da sie ohne viel Aufwand alles im Blick haben. Sie sollten aber durch eigene Bewegungen zunächst Muskulatur aufbauen und Koordination trainieren, bevor der Körper in die Senkrechte kommt. Das können auch Bewegungen wie Drehen, Kullern oder Robben sein.
Doch selbst wenn dein Kind nicht krabbelt, darfst du getrost Ruhe bewahren, weil solche Kinder normalerweise trotzdem Laufen lernen.
Langes oder kurzes Krabbeln: Wann zum Kinderarzt?
Die Dauer der Krabbelphase ist laut Tanja Brunnert individuell sehr unterschiedlich. „Hier gibt es keine Vorgaben, das Kind bestimmt, wie lange diese Phase dauert. Wenn es mit 18 Monaten noch nicht läuft, sollten es die Eltern beim Kinderarzt oder der Kinderärztin vorstellen.“ Und auch dann muss noch nicht unbedingt etwas „schiefgelaufen“ sein.
Kinderärztin Brunnert: „Wenn man feststellt, dass das Kind zwar noch nicht läuft, aber kontinuierlich Fortschritte macht und neurologisch unauffällig ist, kann auch weiter abgewartet werden. Ansonsten kann eine physiotherapeutische Behandlung sinnvoll sein, und neurologische Auffälligkeiten müssen natürlich weiter abgeklärt werden.“
Regelmäßig zu den Kinder-Vorsorgeuntersuchungen
Ein Arztbesuch ist auch angesagt, wenn das Kind Rückschritte in der Entwicklung machen sollte. Auch Auffälligkeiten wie fehlendes Lautieren bei einem Säugling, Stottern, auffällige Bewegungsmuster wie zum Beispiel ein kontinuierlicher Zehenspitzengang sollten Eltern abklären lassen. Darauf weist die Kinderärztin ebenfalls hin. Und: Eltern sollten auch die Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig wahrnehmen. Sie dienen dazu den Entwicklungsstand des Kindes festzustellen und bieten Raum, um über eventuelle Sorgen zu sprechen.
Entwicklungsverzögerungen: Was tun?
Wichtig bei Verzögerungen in der Entwicklung ist es, eine zugrundeliegende Erkrankung auszuschließen. Dann reichen oft auch häusliche Fördermaßnahmen aus. Tanja Brunnert nennt dazu wichtige Basics: Bilderbücher schon im ersten Lebensjahr gemeinsam angucken und dem Kind regelmäßig etwas vorlesen. Bildschirmfrei bis zum Alter von drei Jahren. Fernseher im Kinderzimmer ist ein Tabu.
Außerdem solltest du darauf achten, deinem Kind von Anfang an Bewegungsmöglichkeiten zu bieten – immer dem jeweiligen Alter angepasst. Dies bestätigt Remo Largo in seinem Buch „Babyjahre“. Demnach sind sowohl die Eltern als auch der Bewegungsraum maßgeblich für die motorische Entwicklung eines Kindes: „Ein Kind, dass sich auf Spielplätzen, auf Wiesen und in Wäldern tummeln kann, wird motorisch geschickter werden und eine andere Beziehung zum Körper bekommen, als wenn seine Bewegungsmöglichkeiten auf die Wohnung beschränkt bleiben.“
Krabbelhilfen und Lauflernhilfen: Ja oder nein?
Medizinerin Tanja Brunnert rät dringend davon ab, genau wie andere Kinderärzt*innen auch. Manche Eltern kaufen Lauflernhilfen, weil sie glauben, dass sie bei ihrem Kind das Gehenlernen fördern. Doch können Lauflernhilfen das Gegenteil bewirken und die motorische Entwicklung verzögern. Zudem besteht eine erhöhte Unfallgefahr, weil die Kinder damit schneller sind. Stürze in Lauflernhilfen sind tendenziell gefährlicher, weil ein Baby meist mit dem Kopf voran umfällt und es sich nicht aus dem Gerät befreien kann.
Lauflernhilfen erhöhen Unfallrisiko
Weitere Risiken ergeben sich, weil die Kleinen in einer Lauflernhilfe erhöht sitzen und so eine größere Reichweite erlangen – also auch Zugang zu gefährlichen Dingen, an die sie sonst nicht herankommen, wie etwa ein heißes Getränk oder giftige Haushaltssubstanzen. Darauf weist unter anderem der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) hin, der deswegen vor dem Einsatz solcher Geräte warnt und schon lange ihr Verbot fordert.
Krabbelvergleiche? Besser nicht!
Zusammenfassen: Jedes Baby hat sein eigenes Tempo und entwickelt sich individuell. Deshalb habt Geduld und Vertrauen in euer Kind! Manchmal geht es bei einem Entwicklungsschritt weiter, während ein anderer stagniert. Das ist in den allermeisten Fällen normal.
Sofern beim Arztbesuch nichts Auffälliges festgestellt wurde, gilt also: Lasst euch nicht durch Vergleiche mit anderen Babys verrückt machen, sondern genießt die gemeinsame Zeit.