Johann hat wieder viel Neues gelernt und zeigt sich erneut von der unruhigen Seite.
Samstag, 21 Uhr
Ich habe jetzt sieben Kisten gepackt. Mit Unmengen an Büchern. Mit Briefmarken ab 1900. Mit Klassik- und Jazzplatten. Mit Kristallgläsern und Schmuck meiner Großmutter. Mit Silberbesteck meiner Mutter. Mit meinen alten Puppenhausmöbeln.
Mein Mann nimmt morgen alles mit nach Berlin. Ich werde mit den Kindern noch etwas hier bei meiner Mutter bleiben. Jetzt kann ich beherzt einen Schlussstrich unter das „Herumkramen“, Wegwerfen, Verschenken, Verkaufen setzen. Mich hat das Ganze emotional ganz schön mitgenommen. Will gar nicht wissen, wie sehr es meiner Mutter wehgetan haben muss, sich von all den Dingen zu trennen, die ihr und meinem Vater so viel bedeutet haben.
Zwar hat meine Mama immer noch genügend Dinge, die sie in Kisten verpacken muss. Aber das sind dann vor allem Dinge, die sie in der neuen „altersgerechten“ Wohnung auch gebrauchen kann.
Heute gibt’s keine Erinnerungsschnipsel der Woche, sondern nur einen kurzen Bericht der letzten Tage.
Ich habe hier bei meiner Mutter wieder Kontakt zu alten Schulfreunden aufgenommen. Mit einigen wenigen treffe ich mich, wenn es sich zeitlich einrichten lässt. Nun hätte in diesem Jahr eigentlich ein Abi-Treffen stattfinden müssen. Vor 20 Jahren haben wir stolz unsere Abschlusszeugnisse in den Händen gehalten und hoffnungsvoll in die Zukunft geschaut. Vor 10 Jahren hatten wir uns das erste Mal wiedergetroffen. Das war so super. Alle meinten am Schluss, dass wir uns jetzt häufiger sehen sollten. Wir sind aber ein so lahmer Haufen… Nun habe ich mir mit zwei alten Freunden überlegt, dass wir im kommenden Jahr auf jeden Fall etwas auf die Beine stellen müssen. Ich habe zwar eigentlich genug um die Ohren, aber na ja. Irgendwer muss ja den Popo hochbekommen.
Heute habe ich eine ehemalige Kollegin aus Moskau getroffen. Erst fiel es mir sehr schwer, mich auf den Weg zu machen. Vor Ort war es aber total schön zu quatschen und von früher zu reden. Johann hatte ich mitgenommen. Er lag auf dem dicken Teppich zwischen uns, belutschte die Spielsachen und brabbelte vor sich hin. Auf der Hinfahrt machte es mir sehr Spaß, langsam mit dem Auto über die Landstraßen zu fahren und über die Felder Richtung Wasser zu schauen. Zesenboote lagen im Hafen. Die Sonne stand heute schon so tief, dass das Licht, welches durch die Bäume schien, so besonders herbstlich-golden wirkte. In zwei Orten lagen auch schon reife Äpfel und Birnen auf der Hauptstraße.
Johann hat in dieser einen Woche einen beachtlichen Sprung gemacht. Er futtert, was das Zeug hält. Am liebsten mag er Obst und Gemüse. Fleisch und Fisch mag er nicht. Sobald ich etwas essen will, möchte er auch etwas haben. Darum nehme ich jetzt immer etwas mit, wenn ich unterwegs bin. Reiswaffeln, Brötchen oder Breigläschen. Meine Brust allein reicht ihm nicht mehr. Als wir diese Woche einmal bis zum frühen Nachmittag am Strand blieben und ich nichts für ihn dabei hatte, wurde er total unruhig. Er wollte nicht gestillt werden, trank immer nur ganz kurz und starrte unentwegt auf unsere Pommes. Auf dem Rückweg jaulte er im Anhänger unentwegt und war erst glücklich, als er zu Hause Brei bekam. Wahnsinn! Er wird sich doch hoffentlich nicht in den nächsten Wochen allein abstillen? Aber das glaube ich eigentlich nicht, da die Brust für ihn weiterhin Beruhigung und Trost ist.
Johann begann am letzten Dienstag, sich an mir hochzuziehen. Als er stand, war er so glücklich, dass er es den ganzen Abend immer wieder versuchte und kaum zur Ruhe kam. Er will seitdem nur noch stehen. Die vielen Umzugskartons, aufgeschichteten Bücher und Schallplatten versuchte er auch zu erklimmen. Das war jedoch etwas gefährlich, da die Berge manchmal zu rutschen begannen. Er robbt auch weiterhin durch die Wohnung. Krabbeln mag er nur auf kurzen Distanzen, zum Beispiel wenn er Türschwellen überqueren will. Wenn er aber sieht, dass seine große Schwester etwas Interessantes zum Spielen in der Hand hält, schaltet er sofort in den Turbomodus um und robbt so schnell er kann. Er setzt sich aus dem Stehen häufiger in den Sitz, wobei er sich oft noch mit einer Hand zwischendurch abstützt. Da er aber weder sicher sitzen, noch knien, noch stehen kann, fällt er im Grunde ständig um und weint. Natürlich versuche ich ihm oft zur Hilfe zu kommen. Aber ich bin nicht immer schnell genug. Johann ist ein ziemlicher Chaot: Probiert motorisch alles Mögliche aus. Versucht überall ranzukommen. Macht Schränke auf. Und weint und schreit immer wieder viel und laut. Aus Wut. Aus Empörung. Vor Schmerz.
Seit gestern versucht er, auch an der Hand zu laufen oder löst von der Couch eine Hand, um auf mich zuzukommen. Alles ziemlich wacklig und irgendwie auch unkoordiniert. Unsere Große war da etwas geordneter. Erst konnte sie ordentlich krabbeln und sitzen, bevor sie sich überall hochzog. Na, und dann dauerte es nochmal eine ganze Weile, bevor sie sich stehend fortbewegen wollte. Ich glaube, Johann bringt eine gewisse Risikobereitschaft für Unfälle mit oder wie mein Mann so schön sagt: „Johann hat ziemliches Potential“.
Na, dann hoffe ich mal, dass der junge Mann motorisch bald etwas sicherer wird. Übrigens gestaltet sich das Einschlafen derzeit recht schwierig: Johann will im Grunde gar nicht schlafen. Er ist hundemüde. Reibt sich ständig die Augen. Aber er robbt, krabbelt immer weiter und versucht, sich in seinem Bett hinzustellen. Je müder er ist, um so motorisch unruhiger wird er, bis er irgendwann nur noch schreit. Ich bekomme ihn zurzeit nur zur Ruhe, indem ich ihn stille und anschließend festhalte. Zunächst wehrt er sich immer, bis er zunehmend weniger Kraft hat. Dabei singe und küsse ich ihn auf Wange und Stirn. Langsam schließen sich dann die Augen und aus dem Gebrabbeln wird langsam ein Säuseln. Tja, so ist er gerade.
Gute Nacht!
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