"Geburtszeitraum" statt "Geburtstermin"
Oft hängt ein Kalender in der Küche bei den Eltern, die sie betreut, das Datum fett und rot markiert, umkreist von Herzchen. „Es erinnert an die heiß ersehnte Post, nach dem Motto: An dem Tag wird das Päckchen geliefert“, sagt Ursula Jahn-Zöhrens, Hebamme aus Bad Wildbad. „Das tut mir dann so leid, denn statistisch gesehen kommen nur vier Prozent am errechneten Geburtstermin zur Welt, alle anderen werden schon vorher geboren oder kommen später.“ In ihrer Hebammenpraxis „Oberes Enztal“ betreut sie jährlich rund 90 Familien von der Schwangerschaft bis zum Wochenbett und leitet auch Geburtsvorbereitungskurse. „Und ich merke es immer ganz stark, dass alle auf den Termin fixiert sind, sobald er berechnet wurde. Dabei wäre es richtig, von einem Geburtszeitraum und nicht von einem festen Termin zu sprechen.“
Geburtstermin nach künstlicher Befruchtung
Längst ist bekannt, dass dies auch nach einer künstlichen Befruchtung gilt, also bei Schwangerschaften nach einer In-vitro-Fertilisation (IVF) oder Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI).
Expertin
Ursula Jahn-Zöhrens ist Hebamme aus Bad Wildbad. In ihrer Hebammenpraxis "Oberes Enztal" wird sie regelmäßig mit den Sorgen und Unsicherheiten werdender Eltern rund um den Geburtstermin konfrontiert.
Auf den ersten Blick verwundert es, steht doch in solchen Fällen der Zeitpunkt der Befruchtung exakt fest, weshalb man von einer genauen Berechnung des Geburtstermins ausgehen könnte – etwa mit der Naegele-Regel. Doch mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft wächst auch die Ungenauigkeit. „Bis etwa zur 14. bis 16. Schwangerschaftswoche entwickeln sich Schwangerschaften relativ gleich“, erläutert die Hebamme. „Da kann man tatsächlich diese Art der Terminbestimmung auch nutzen. Ab dem vierten Monat entwickeln sich die Kinder jedoch individuell. Am Ende wiegt das eine vielleicht 2800 Gramm und das andere 4000 Gramm; das eine kommt mit der Länge von 49 Zentimetern auf die Welt, das andere mit 53 Zentimetern.“
Ab dem vierten Monat individuelle Entwicklung
Solche unterschiedlichen Maße entwickeln genauso auch die Kinder nach einer künstlichen Befruchtung. „Auch wissen wir nichts über die individuelle Tragzeit des Menschen. Bei der einen Frau braucht das Kind vielleicht 281 Tage, bei einer anderen 275 oder 291 Tage. Das ist körperlich bedingt und einfach okay.“ Genauso gelte dies daher für Schwangerschaften, bei der die Befruchtung auf natürlichem Weg erfolgte und die Frau spontan wusste „heute Nacht ist es passiert“, den exakten Termin des Ereignisses also ebenfalls kennt.
Schwangerschaften nach IVF oder ICSI
Dennoch sind eine Schwangerschaft und Geburt nach künstlicher Befruchtung für die werdende Mutter eine besondere Situation. Ursula Jahn-Zöhrens sieht hier vor allem zwei Aspekte. „Zunächst die Frage, ob die hormonelle Situation den normalen Geburtsbeginn erschweren kann. Das Risiko einer Gestose oder Schwangerschaftsdiabetes beispielsweise ist nach einer künstlichen Befruchtung erhöht. Viele Frauen bekommen jedoch ihre Kinder nach IVF oder ICSI auf unproblematische Weise.“ Gestose (veraltet: „Schwangerschaftsvergiftung“) ist der Überbegriff für verschiedene durch die Schwangerschaft bedingte Erkrankungen.
HEBAMMEN-TIPPS
In der Zeit vor und nach der Geburt kommen viele Fragen auf. In unseren Hebammen-Tipps findest du bestimmt Antworten zu Themen und Problemen zur Geburt und zur Babypflege:
Geburtstermin nach ICSI und IVF: Hohe Erwartungen und Misstrauen
Hinzu kommt der psychologische Aspekt, wie die Hebamme weiter erläutert. „Die Frau hat dann oft schon viele Jahre auf ein Kind gewartet bei ‚Sex nach dem Kalender‘, hat vielleicht schon drei oder vier Zyklen von dem ganzen Prozedere mit Stimulierung der Eierstöcke und so weiter mitgemacht. Wenn es dann endlich geklappt hat mit der Befruchtung, muss es natürlich unbedingt ein gutes Ende nehmen. So stehen die Frauen unter Spannung und die Erwartungshaltung ist hoch, kann sich wie eine Schranke vor eine normale Geburt senken.“ Manche Frauen entwickelten auch das Bewusstsein: Der Körper ist nicht allein in der Lage schwanger zu werden, ist er dann womöglich auch nicht in der Lage allein ein Kind auf die Welt zu bringen? „Dies kann zu einem tiefen Misstrauen der Frau gegen sich selbst führen.“
„So viel Normalität wie möglich schaffen“
Ist es dann endlich soweit, könne es zum Beispiel passieren, dass die Geburtswehen vor lauter Aufregen nicht in Gang kommen. „Genauso kommt es vor, dass Ärzte schon vor dem Entbindungstermin einen Kaiserschnitt vorschlagen, damit ja nichts schiefgeht.“ So kommt es nach einer künstlichen Befruchtung besonders auf die fachkundige und fürsorgliche Begleitung an. „Die Frauen stehen sehr unter Druck, es ist dann wichtig, so viel Normalität wie möglich in der besonderen Situation zu schaffen.“ Besonders wenn die kritischen ersten Wochen überstanden sind, rät sie Schwangeren es gelassen zu nehmen: Jetzt genieße es und streichele deinen Bauch – besonders auch, wenn da zwei oder drei drin sind.
Geburtstermin bei Zwillingen und Mehrlingen
Bei einer Schwangerschaft und Geburt mit Mehrlingen gelten wortwörtlich andere Maßstäbe – auch hinsichtlich des Geburtstermins. Hier setzt laut Ursula Jahn-Zöhrens das Körpervolumen auch zeitliche Grenzen. „Es scheint so zu sein, dass die Natur es so eingerichtet hat, dass die Frauen ihre Kinder in solchen Fällen nicht ganz solange behalten können. Der Reifeprozess läuft dann schneller ab. So spricht man bei Zwillingen grundsätzlich nicht von 40 Schwangerschaftswochen, sondern von 38 oder 37 Wochen. Drillinge kommen in der Regel noch früher.“
Drillinge in der 29. Schwangerschaftswoche
Diese Erfahrung hat auch Mediaberaterin Kathrin gemacht. Sie bekam ihre Drillinge in der 29. Woche. „Wir haben es schon im ersten Monat erfahren“, erinnert sich die 36-Jährige. „Erst waren nur die beiden Jungs auf dem Ultraschall zu sehen.“ Dann aber schickte ihre Frauenärztin sie ins Klinikum zu einer weiteren Untersuchung mit den Worten „Irgendetwas ist da noch ...“ In einer Spezialsprechstunde wurde dort noch die kleine Helene entdeckt, die sich etwas versteckt hatte. „Ich habe mich von Anfang an gefreut, obwohl es ja noch gar nicht spruchreif war.“ Bei Drillingen, hatten ihr die Ärzte erklärt, müsse man bis zum dritten Monat abwarten, weil die Natur meist noch eins abstoße.
Eine Frühgeburt mit Kaiserschnitt
Behutsam begleitete die Gynäkologin die werdende Mutter durch die bangen Wochen. „Mir wurde nicht gesagt: Sie schaffen 33 Wochen, oder: Sie müssen das bis zu einem bestimmten Termin schaffen. Vielmehr wurde von Woche zu Woche gedacht.“ Häufige Arzttermine, ein bis zwei Mal wöchentlich, gehörten zu ihrer Schwangerschaft. „Zwischendurch habe ich auch im Klinikum gelegen, weil die Kinder schon so weit abgesackt waren.“ Pro Forma wurde zwar ein Geburtstermin exakt benannt wie bei Einlingen, es wäre Anfang 2015 gewesen. Doch Kathrin wurde auch gesagt, da kommt man vielleicht mit Zwillingen hin, aber auf keinen Fall mit Drillingen. So wurde sie auf eine Frühgeburt vorbereitet. „Klar war auch, dass es ein Kaiserschnitt werden würde. Etwas anderes wäre in diesem Fall gar nicht in Frage gekommen.“
Alles dreifach: 25 Personen im Kreißsaal
Ende 2014 war es soweit. Die Schwangere lag bereits im Klinikum, denn sie musste auch wegen einer festgestellen Plazenta praevia besonders vorsichtig sein, und es war schon zu einer Blutung gekommen. „In so einem Fall kann sich die Plazenta ablösen und man muss sofort reagieren, weil das Leben von Mutter und Kind sonst in Gefahr ist. Das hatte aber nichts mit den Mehrlingen zu tun.“ An diesem Tag nun kam es zu einer besonders starken Blutung, die sofort das komplette OP-Team auf den Plan rief. „Es mussten jeweils alle dreifach dabei sein, also unter anderem sechs Kinderärzte und drei Inkubatoren. So waren bestimmt 25 Leute im Kreißsaal, die mich versorgten.“ Nachdem auch der Ehemann herbeigeeilt war, ging es los. „Ich hab nur noch geheult vor lauter Aufregung und mir kommen auch jetzt die Tränen, wenn ich daran denke. Nach dem Aufwachen habe ich bestimmt 20x hintereinander gefragt, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist.“
Es war alles bestens. Edgar, Emil und Helene waren mit je 1000 Gramm zur Welt gekommen und verbrachten noch zwei bis drei Monate auf der Frühchenstation. „Inzwischen sind sie zwei Jahre alt und haben sich prächtig entwickelt. Wir haben ein ganz großes Glück gehabt, auch dank der medizinischen Entwicklung.“