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Geburtserlebnis: Hilfetelefon nach schwieriger Geburt

Die Geburt ist vorbei, das Baby da. Du bist geflasht beim Anblick des kleinen zarten Wesens, das du nun endlich in deine Arme schließen kannst. Und auch erleichtert – alles ist gut gegangen, sagst du. Wenn das so bleibt – wunderbar. Aber was, wenn es Situationen vor, während oder nach der Geburt gab, die dich belasten, dir seelischen Schmerz bereiten?

In diesem Artikel:

Wenn du direkt nach der Geburt mit dem Ablauf haderst? Oder dir Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre später bewusst wird, dass dich ein Ereignis in Zusammenhang mit der Geburt einfach nicht loslässt? Dich zum Beispiel immer wieder Versagensängste quälen, weil es letztlich doch zu einem Kaiserschnitt kam?

Dann kann es helfen, sich mit Expertinnen darüber auszutauschen. Die Aussprache wird dir guttun und kann Klarheit und wieder mehr Ruhe in dein Leben bringen.

Hilfetelefon Schwierige GeburtSeit Juni 2020 gibt es deshalb das „Hilfetelefon nach schwieriger Geburt“ – ein gemeinsames Projekt der Vereine Mother Hood e. V. und ISPPM e. V., der Internationalen Gesellschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin. Zweimal die Woche jeweils zwei Stunden lang kannst du als betroffene Mutter anonym anrufen. Dabei spielt es keine Rolle, ob deine seelische Wunde noch recht frisch ist oder du sie bereits jahrelang mit dir herumschleppst.

Mit Expertinnen zu reden, um das Geschehene besser zu verstehen und einordnen zu können, bringt Erleichterung. Und vielleicht kannst du auch deinen Frieden mit dem Geschehenen schließen und bei der nächsten Geburt besser für dich sorgen.

Wir haben mit den Hilfetelefon-Initiatorinnen Katharina Desery (Mother Hood e. V.) und Paula Diederichs (ISPPM e. V.) über das Hilfetelefon und schwierige Geburten gesprochen und sie gefragt, warum und für wen sie dieses Beratungsangebot ins Leben gerufen haben.

Expertinnen-Interview: Hilfetelefon nach schwieriger Geburt

Expertinnen

Katharina DeseryKatharina Desery ist Gründungsmitglied von Mother Hood e. V., im Vorstand des Elternvereins und zuständig für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat drei Kinder (geboren 2010, 2007 und 2005) und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

 

 

Paula DiederichsPaula Diederichs leitet in Berlin-Mitte eine SchreiBabyAmbulanz sowie das WIKK Institut, welches Weiterbildungen zur Krisenbegleiterin für Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit anbietet. Sie ist zudem Mitglied der International Society for Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine, kurz ISPPM e. V., und war lange Jahre Präsidentin des Vereins.

kidsgo: Was hat es mit dem Hilfetelefon nach schwieriger Geburt auf sich?

Katharina Desery: Nicht jede Mutter ist nach der Geburt ihres Kindes uneingeschränkt glücklich. Vielen Frauen hilft es dann, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Manche stoßen leider auf Unverständnis in ihrem Umfeld und müssen Sätze hören wie „Hauptsache, dem Kind geht es gut!” Wenn Betroffene spüren, dass sie mit dem Erlebten nicht gut zurechtkommen, sollten sie sich Hilfe holen.
Und genau dafür haben wir das Hilfetelefon nach schwieriger Geburt auf den Weg gebracht.

Wie kam es dazu, so ein Hilfetelefon anzubieten?

Katharina Desery: Mütter berichten uns immer wieder von den Geburten ihrer Kinder. Nicht alle sind gut verlaufen und manche leiden sehr – teilweise auch nach Jahren. Wir spüren, wie gut den Frauen das Reden tut, und dass sie oft froh sind, mit jemandem Verständnisvollen reden zu können. Da kam die Idee von einer telefonischen Anlaufstelle auf, an die sich Menschen mit einer schwierigen Geburtserfahrung wenden können. Einfach um über die Geburt zu sprechen und was sie belastet. Auch wenn wir uns hauptsächlich an Mütter wenden, können selbstverständlich auch Väter anrufen. Eigentlich alle, die eine Geburtserfahrung sehr belastet.

Womit haben Familien am meisten zu kämpfen?

Paula Diederichs: Das ist natürlich sehr individuell. Aber einige Probleme treten häufiger auf. Dazu zählt zum Beispiel, dass die Mutter Selbstzweifel hat, das Gefühl versagt zu haben, die Geburt nicht „gemeistert” zu haben. Leider kommt es nicht selten auch zu Bindungsstörungen zum Kind und damit verbunden zu Schwierigkeiten beim Stillen. Es kann auch zu einem Vertrauensverlust in den eigenen Körper kommen bis hin zu Problemen beim Sex und Angst vor einer weiteren Schwangerschaft und Geburt. Postpartale Depression und Posttraumatische Belastungsstörung sind zwar seltener, kommen aber auch vor und brauchen besondere Aufmerksamkeit.

Was kann das Hilfetelefon leisten?

Paula Diederichs: Entscheidend ist, was die Frau fühlt. Die Beraterin am Telefon hört zu, ohne zu werten, tauscht sich mit der Anrufenden über das Erlebte aus und bestärkt dabei, die Empfindungen der Mutter zu benennen und einzuordnen. Erstes Ziel ist, zu stabilisieren und aus dem Kreislauf der schlechten Gedanken und Gefühle herauszukommen.
Das Telefongespräch soll dabei helfen, eine möglicherweise belastete Beziehung zwischen Mutter und Kind – aber auch zum Partner – zu normalisieren. Schön wäre, dadurch den Weg hin zu einer stabilen, möglichst glücklichen erfüllenden Bindung und Familienbeziehung zu ebnen.

Vermittelt das Hilfetelefon auch Therapieangebote?

Katharina Desery: Nein, das ist leider nicht möglich. Aber die Beraterin überlegt mit der Anrufenden, ob dieses Erstgespräch ausreicht oder ob weiterer Gesprächs- und gegebenenfalls Therapiebedarf gewünscht und nötig ist. Dann informiert die Beraterin, welche Therapieformen in Frage kommen können und gibt Tipps zur Suche nach weiteren Unterstützungsangeboten am Wohnort der Frau.
Paula Diederichs: Unsere Beraterinnen sind alle „vom Fach”. Sie haben beruflich mit Familien zu tun, die durch eine Geburt belastet oder sogar traumatisiert sind.

Wie können sich Schwangere auf die Geburt vorbereiten?

Paula Diederichs: Die Antwort ist schwierig. Jede Frau und jede Geburt ist individuell. Vielen Frauen hilft es, über die Abläufe einer Geburt sehr gut Bescheid zu wissen. Was bedeutet zum Beispiel eine Geburtseinleitung und wann muss diese sein? Was sind die Vor- und Nachteile von Schmerzmitteln, wie etwa der PDA? Kann ich Untersuchungen auch ablehnen? Was kann ich tun, wenn die Hebamme nicht die ganze Zeit bei mir sein kann?

Wie ist es mit einem Geburtsplan?

Katharina Desery: Weit vor der Geburt ist es gut, sich über seine eigenen Bedürfnisse im Klaren zu sein, niederzuschreiben und im Laufe der Schwangerschaft auch anzupassen und vielleicht zu erweitern. Das könnte in einer Art Geburtsplan geschehen. Ich finde das Wort aber ungünstig, denn Geburten sind nicht planbar. Denkbar wäre ein höchstens zweiseitiges Dokument mit der Überschrift „Was Sie über mich und meine Geburt wissen müssen”. Eine Kopie davon bekommt das Geburtsteam bei der Anmeldung in der Klinik.
Paula Diederichs: Sinnvoll ist, keinen starren Geburtsablauf im Kopf zu haben und gedanklich auf einen Plan B und sogar C gefasst zu sein. Ein Grundvertrauen in die Stärke des eigenen Körpers hilft in jedem Fall sehr. Ein Beispiel: Es kann unglaublich Kraft gebend sein, sich zu verinnerlichen, dass jede Wehe dafür sorgt, seinem Kind näher zu kommen.

Seit Anfang des Jahres gibt es eine medizinische Leitlinie für die sogenannte vaginale Geburt am Termin. Wäre das auch eine geeignete Lektüre zur Vorbereitung?

Katharina Desery: Auf jeden Fall! Auch wenn der Wortlaut der Leitlinie an einigen Stellen ziemlich sperrig und medizinisch ist und manches schwer verständlich, lohnt sich ein Blick in den Text. Die Leitlinie unterstützt Frauen dabei, eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte, selbstbestimmte Geburt zu erleben. Ihr Ziel ist eine frauzentrierte Betreuung. Und wir wissen, dass eine persönliche und achtsame Geburtsbegleitung das Risiko von schwierigen Geburten senkt.
Unser Verein Mother Hood verbreitet über die sozialen Medien und auf der Vereinswebsite die wichtigsten Empfehlungen aus der Leitlinie.

Gibt es etwas, dass ihr unbedingt noch erwähnen möchtet?

Paula Diederichs: Uns ist ganz wichtig zu betonen, dass die Mutter allein darüber entscheidet, ob die Geburt für sie belastend war oder nicht. Niemand darf ihr diese Einschätzung zu ihrer Geburtserfahrung streitig machen. Und sie selbst darf sich auch nicht die Verantwortung geben, wenn etwas nicht so gelaufen ist wie erwünscht.

Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!