Heute mal ein paar ganz allgemeine Gedanken zum Thema Elternwerden in unserer Gesellschaft...
Angestoßen durch Stefanies letzten Beitrag und die Äußerungen ihres Gynäkologen zum Krankschreibeverhalten von Frühschwangeren möchte ich meine ganz persönlichen Gedanken dazu mit Euch teilen.
Gerade betreue ich eine Frau in der siebten SSW mit massiver Übelkeit und Erschöpfung. Ihr Wunsch ist eine Besserung der Situation, damit sie ihre Arbeit wieder voll erledigen kann. Dies verursacht natürlich einen massiven Druck, der nicht gerade förderlich ist für die Gesamtsituation. Mit viel Überzeugungskraft habe ich sie dazu gebracht, sich doch krank schreiben zu lassen, um ihrer Situation als Schwangere gerecht werden zu können. Ein Kleinkind im Haushalt erschwert die Situation zusätzlich. Diese Frau öffnete mir beim ersten Hausbesuch leichenblass und fröstelnd im dicken Fleecepulli trotz nahezu 30 Grad Außentemperatur die Tür. Jedem Arbeitnehmer mit einer Grippe oder einem Magen-Darm-Infekt würde man hier empfehlen, sich auszukurieren. Aber diese Frau ist ja „nur“ schwanger...
Ich erlebe es sehr häufig, dass es den Frauen gerade in der Frühschwangerschaft sehr schlecht geht, sie sich aber nicht trauen, sich krank schreiben zu lassen, weil sie ja noch keine dicke Kugel mit sich herum tragen. Dabei wissen viele Schwangere, dass gerade in den frühen Wochen das Wohlbefinden viel, viel schlechter sein kann als in der 28. SSW oder später. Ganz wichtig ist es mir, den Frauen klar zu machen, was da gerade alles im Körper passiert. Die Umstellung von nicht-schwanger auf schwanger ist eine enorme Leistung - und zwar körperlich ebenso wie mental. Zellen differenzieren sich, der Embryo entwickelt sich, alle Organsysteme werden angelegt und verfeinert. Eine wirklich stark verändernde und kritische Zeit ist das, wenn auch das von außen noch nicht sichtbar ist.
Ist es darum nicht besonders wichtig, dieses zarte sich entwickelnde Pflänzchen besonders gut zu hegen und zu pflegen? Und es ist wahrlich kein Luxus, sich mit Übelkeit und Kreislaufproblemen aufs Sofa zu legen anstatt sich zur Arbeit zu schleppen. Aber die Frauen haben oft große Bedenken, diesen Schritt zu gehen, weil ihnen von außen ständig suggeriert wird, dass Schwangerschaft ja keine Krankheit sei. Nein, das ist sie auch nicht, aber sicherlich die größte und herausforderndste Umstellung, die ein Frauenkörper erlebt. Ich bin sehr froh über das recht gute Mutterschutzgesetz hier in Deutschland, allerdings ist bei Freiberuflern das Dilemma wesentlich größer. Nicht arbeiten gehen bedeutet in der Regel auch Verdienstausfall, was den Stress ungemein erhöht. Statistisch werden viel zu wenige Kinder in Deutschland geboren, also sollte doch die Gesellschaft ein Interesse daran haben, werdendes Leben zu schützen.
Was auch oft nicht gesehen wird bzw. was niemand kennt, sind die Vorgeschichten mancher Frauen, die es sinnvoll machen, sich vielleicht etwas eher krank zu melden, um den Schwangerschaftsbeginn stressfreier zu gestalten. Die zum Teil hohe Anzahl voran gegangener Fehlgeburten ist meist weder dem Arbeitgeber noch den Kollegen bekannt. Für Frauen mit einer solchen Anamnese beginnt einfach jede weitere Schwangerschaft doch wesentlich angstgeplagter.
Sicherlich gibt es auch Frauen, denen es gut geht und die vielleicht tatsächlich einfach keine Lust auf ihre Arbeit haben und dafür die Schwangerschaft als willkommenen Anlass nehmen. Aber diese Spezies gibt es auch unter Nichtschwangeren. Aus meiner Erfahrung heraus sind das aber die Wenigsten. Die meisten Frauen tun sich sehr schwer mit Beschäftigungsverboten oder längeren Krankschreibungen. Wenn dann die ersten positiven Effekte auftauchen wie eine zurückgehende Wehentätigkeit oder einfach auch nur das Nachlassen der Übelkeit, ist nicht selten der erste Gedanke: „Nun kann ich ja sofort wieder arbeiten gehen“.
Aber genauso, wie in der Schwangerschaft volle Leistung erwartet wird, geht es ja auch hinterher weiter. Das achtwöchige Wochenbett hat für viele Menschen längst seine Bedeutung verloren. Schließlich hat ja Frau „bloß“ ein Kind geboren. Ich finde, da fängt die Kinderfeindlichkeit in Deutschland oft schon an - lange bevor es um genügend Raum zum Spielen, Kinderlärm oder Kitaplätze geht. So wie ein Großteil der Gesellschaft mit Schwangeren und jungen Eltern umgeht, so geht es dann später mit den Kindern weiter. Die Eltern heute gehen darum oft mit völlig unrealistischen Erwartungen an die Familienplanung und die Enttäuschung ist oftmals vorprogrammiert. Wie gut können Schwangerschaft und auch Mutterschaft verlaufen, wenn es ein stützendes Umfeld gibt. Leider erlebe ich diese positiven Effekte immer seltener. Aber sogar die professionelle Unterstützung wird ja nach und nach „ausgerottet“, wenn ich da auf meinen eigenen Berufsstand schaue.
Ich denke, irgendwann (oder vielleicht auch jetzt schon) bekommt eine Gesellschaft die Rechnung dafür. Noch belegt keine Studie konkret den Zusammenhang zwischen unserem Lebensbeginn und der rapide steigenden Zahl an psychischen Erkrankungen generell sowie der hohen Burnout-Rate bei Berufstätigen. Aber was (permanenter) Stress im Mutterleib oder eine traumatisch erlebte Geburt bei Müttern (und natürlich auch den Vätern) und Kindern bewirken, wissen wir schon jetzt.
Also liebe (werdende) Mütter und Väter - sorgt gut für Euch, damit ihr auch gut für unsere Kleinsten sorgen könnt.
In diesem Sinne eine schöne Woche,
Anja
P.S: Während ich das hier schrieb, hat mein kleiner Bauchbewohner bejahend gestupst und getreten...