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Geburt und Erziehung – Andere Länder, andere Sitten

In den Kulturen und Gesellschaften der Welt sind die unterschiedlichsten Traditionen und Rituale entstanden, die wir in Europa mit einem medizinisch gut abgesicherten Start ins Leben nicht immer nachvollziehen können.

In diesem Artikel:

Andere Länder, andere Sitten

Ein Vergleich: Charlotte streichelt ganz vorsichtig über den weichen Flaum von Lillys Haaren, blond sind sie und sogar schon ein wenig gelockt. Dann zieht sie ihrer zwei Wochen alten Tochter in ihrer Wiege schnell wieder das wärmende kleine Mützchen auf, dazu Söckchen an die Füße. Sie soll nicht auskühlen in diesem deutschen Herbst. Charlotte setzt sich daneben und betrachtet liebevoll ihr Kind.

Amali bückt sich um das Unkraut aus ihrem Beet zu entfernen. Auf ihrem Rücken, fest eingeschnürt in ein Wickeltuch, schläft ihr vier Wochen alter Sohn. Einen Namen hat er noch nicht. Den bekommt er erst in ein paar Monaten. Das ist üblich in ihrem kleinen westafrikanischen Dorf. Die Babys sollen so vor bösen Geistern geschützt werden.

Baritisia hat seinen Sohn noch nicht gesehen. Über eine Woche lebt seine Frau Tupas mit dem Neugeborenen nun bereits bei den Frauen, die ihr bei der Geburt beigestanden haben. Es wird auch noch eine Weile dauern, bis Tupas zu ihrem Mann zurückkehrt. Denn bei den Matis- Indianern in Brasilien sagt man, dass Männer in den ersten Monaten einen schlechten Einfluss auf die Babys haben. Tupas hat sich direkt mit Einsetzen der Wehen in die Hände der Frauen aus ihrem Dorf begeben. Dort gebar sie ihr Kind, das in den ersten Wochen noch als Waldgeist angesehen wurde.

Egal wo auf der Welt eine Frau schwanger wird, sie erhält von ihrer Gemeinschaft einen besonderen Status. Häufig bestimmen dann zahlreiche Regeln ihr Leben. Diese umfassen in vielen Kulturen den Umgang mit anderen, die tägliche Ernährung und das Arbeiten. In Guatemala zum Beispiel dürfen schwangere Frauen nicht nach draußen, wenn die Sonne im Zenit steht oder Vollmond ist. Man befürchtet, das Kind könnte sonst missgebildet werden. In Neu-Guinea ist es Schwangeren verboten, Beuteltierfl eisch zu essen. Der Verzehr würde für die werdende Mutter eine Gefahr bei der Geburt darstellen.

In Sumatra führen die werdenden Eltern rituelle Gespräche und verschenken Reiskuchen, um so ihre Verwandten über das werdende Leben zu unterrichten. Und in Mali dürfen sich Schwangere beim Wasser holen nicht bücken, das Kind in ihrem Bauch könnte sich sonst übergeben.

In westlichen Ländern hingegen erhält eine schwangere Frau eher den Stempel `krank`. Schwere Arbeiten sind ihr verboten, sie soll sich schonen. Sie wird zur Patientin, begleitet von einem umfassenden medizinischen System, das häufig verunsichert und manchmal sogar Ängste bei den Frauen schürt. Rituale oder besondere Traditionen gibt es nicht.

So erlebte es auch Charlotte. Die regelmäßigen Besuche bei ihrer Frauenärztin erwartete sie gespannt, doch häufig hinterließen sie nur Fragen. Die Gewichtszunahme ihres Wunschkindes, war es zu viel oder zu wenig? War der Kopf zu groß? Befriedigende Antworten bekam sie selten. In ihrem Freundeskreis konnte sie sich keinen Rat holen, da gab es noch keine Babys. Und ihre Mutter wohnte weit weg.

Erfahrungen der Mütter sind richtungsweisend

In traditionellen Gemeinschaften bestimmen die Erfahrungen der Mütter die Verhaltenweisen der Schwangeren.

Amali hingegen wusste lange nicht, dass sie schwanger ist. Und als sie einen Verdacht hatte, fragte sie ihre Mutter. Eine medizinische Versorgung gab es während der Schwangerschaft nicht. Körperlich fühlte sie sich gut und ihrem Baby ging es ebenso. Brauchte sie Hilfe, dann wandte sich Amali an die Heilerin im Dorf, die mit Kräutern half.

Richten sich in traditionellen Kulturen die Frauen nach den Erfahrungen und Meinungen ihrer Mütter, sind in Industriestaaten mit einer sich ständig wandelnden Gesellschaft, Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit einem Baby vorprogrammiert.

Viele Verhaltens- und Vermeidungsregeln, die früher einen Sinn ergaben, werden heute als Ammenmärchen abgetan. Durch den Verlust dieser alten Regeln und Gebräuche in modernen Gesellschaften sind viele Frauen auf der Suche nach einem Ersatz.

Das beschreibt auch die Soziologin Sheila Kitzinger. Frauen suchen Rituale aus anderen Kulturen, in der Hoffnung, dadurch etwas von der mystischen Bedeutung der Schwangerschaft und Geburt zurück zu erhalten. Sie machen Fotos von ihren Babybäuchen oder Gipsabdrücke, um ihren besonderen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, die so häufig in unserer
Gesellschaft untergehen.

Die Afrikanerin Amali hat ihren Sohn ganz nach den Vorgaben ihrer Familie bekommen. Bis die Wehen einsetzten, arbeitete die 21-Jährige auf dem Feld ihrer Familie. Als die Schmerzen zunahmen, rief sie ihre Mutter und ging in ihre Hütte, um dort die Geburt abzuwarten. Ihre Mutter riet ihr umherzugehen und
sich in den Hüften zu wiegen. Als das Kind kam, nahm Amali ganz automatisch eine hockende Position ein.

Charlotte wollte ihr Baby im Geburtshaus bekommen. Dort hatte sie auch den Vorbereitungskurs belegt, fühlte sich immer sehr wohl und geborgen. Als sich die Geburt hinzog und die Herztöne des Babys schlechter wurden, musste sie ins Krankenhaus verlegt werden. Ihr Mann und ihre Hebamme begleiteten sie. Angeschlossen an das CTG, konnte sie nun nicht mehr aufstehen und umhergehen, obwohl sie es sich so gewünscht hatte. Wäre der Zustand von Charlotte oder ihrem Baby kritisch geworden wäre das OP-Team sofort zur Stelle gewesen. Die medizinische Sicherheit schützt hierzulande das Leben von Mutter und Kind. Selbstbestimmung und intuitives Verhalten rücken dabei aber oft in den Hintergrund.

Fast vergessen – aufrechte Gebärhaltung

Schon vor tausend Jahren bekamen Frauen ihre Kinder in der aufrechten Gebärhaltung.

Bereits vor 30.000 Jahren wurde festgehalten, dass Frauen ihre Kinder in einer Hock- oder Sitzstellung zur Welt brachten, beschreibt die Ethnologin Claudia Riese. Wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Geburtsmedizin haben mittlerweile auch bestätigt, was in traditionell lebenden Kulturen Gang und Gäbe ist: die vertikale Gebärposition ist gegenüber der Rückenlage für Mutter und Kind optimal.

Sia-Indianerinnen sitzen bei den Wehen auf einem Stuhl, im Rücken das Feuer. Während der Austreibungsphase knien sie in einem Sandbett, hinter ihnen sitzt eine Geburtshelferin, die ihren Bauch massiert. In Sibirien hängen sich die Gebärenden an einen Balken, sodass der ganze Unterkörper frei schwingt. Frauen in Neu-Guinea gehen zur Geburt in ein spezielles Haus, das auf Pfählen im Meer steht. Sie liegen auf der Seite und stützen ihre Beine auf ein Brett. Betreut werden sie von drei Hebammen, die ihren Rücken und Bauch massieren.

Das Bad nach der Geburt ist fast überall üblich, auch wenn es in vielen Gemeinschaften eher eine rituelle als eine hygienische Bedeutung hat. Australische Ureinwohner baden ihre Neugeborenen in Rauch, in Tibet werden sie mit Schlamm eingerieben und in westlichen Ländern in Wasser getaucht. Neben dem Säugling kommt auch dem Mutterkuchen oft eine besondere Bedeutung zu. Er wird unter Bäumen vergraben, gegessen oder in Blättern eingewickelt in einen Busch gehängt.

Manche Völker sehen ihn als Gefährten des Kindes und behandeln die Plazenta mit einer entsprechenden Sorgfalt. Häufig wird sie auch als eine Art Medizin für das Neugeborene gesehen. In Guinea zum Beispiel wird die Plazenta in einem Topf hinter das Haus gestellt. Schreit das Baby viel, knetet die Mutter die Nachgeburt gut durch, um so ihrem Kind Kraft zu geben. Bei den Inuit bekommen die Kinder von ihrer Mutter zu jedem besonderen Anlass, wie zum Beispiel dem ersten Anorak, ein Stück ihrer getrockneten Plazenta zu essen.

Die Lernprozesse, um Mutter zu werden, sind überall verschieden!

Was kurz nach der Geburt beginnt, ist weltweit dasselbe: der Lernprozess, Mutter zu werden. Bei diesem Prozess verlassen sich Frauen hierzulande immer weniger auf ihr Bauchgefühl. Sie suchen Rat bei Experten und Ärzten. Zu groß ist die Angst, etwas falsch zu machen. Charlotte, Tupas und Amali leben in unterschiedlichen Welten. Charlotte wird ihr Kind ohne die direkte Unterstützung ihrer Familie großziehen. Amali und Tupas hingegen fragen ihre Mütter und die Frauen ihres Dorfes, wenn sie nicht weiter wissen. Und obwohl sie schon viele Kinder nach der Geburt haben sterben sehen, verlassen sie sich auf ihr Gefühl und die Unterstützung ihrer Gemeinschaft - in jeder Hinsicht.

Sie brauchen dieses enge Netz, damit ihre Kinder beschützt aufwachsen können. Denn Hilfe bekommen sie nur von dort. Charlotte hingegen lebt in einer Gesellschaft, in der das vorhandene medizinische System eine große Sicherheit bietet. Rat sucht sie in Büchern, Kursen und bei Experten, die unterschiedlichen Meinungen verunsichern sie häufig. Wie ihr geht es vielen Frauen in Deutschland und anderen westlichen Ländern. Die Errungenschaften der Medizin stehen zur Verfügung und immer mehr Geburtshäuser und Krankenhäuser bieten eine sanfte Geburtsbegleitung an. Danach ist die junge Familie meist auf sich allein gestellt.

In den Medien wird täglich über die „richtige Erziehung“ diskutiert und wir Frauen, die wir alles richtig machen wollen, hören überall hin, nur nicht auf uns selbst, auf unseren Bauch. So kommt es immer wieder vor, dass sich Erziehungsmethoden nicht „richtig“ anfühlen. Doch nicht bei allen Fragen und Unsicherheiten sollte sofort ein Ratgeber hinzugezogen werden. Vielmehr ist es wichtig, dass Frauen und Mütter auch wieder lernen sich ein Stück auf sich selbst zu verlassen. Nur so lernen sie ihre Kinder und deren Wünsche und Bedürfnisse auch wirklich
kennen.

Charlotte hat schließlich den Rat ihres Kinderarztes befolgt und alle Ratgeber erst einmal ins Regal verbannt. „Sprechen Sie mit ihrem Kind, lesen sie ihm vor und beschäftigen Sie sich mit ihm, das ist das Beste, was Sie für seine Entwicklung tun können“, erklärt er „so lernen Sie Ihr Baby genau kennen und spüren, was das Richtige ist“.

Die Zeit mit Lilly verbringt Charlotte nun viel entspannter. Sie schaut genau hin und oft schon kann sie erspüren, was ihr fehlt. Und über Lillys Bett hat Charlotte einen Schutzengel aus Holz gehängt. Man weiß ja nie . . .