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Baby-Tagebücher von Marisa

Hautnah. Intensiv. Liebenswert. Folgt hier den Babytagebuch-Bloger:innen und erlebt regelmäßig, wenn frischgebackene Mütter und Väter ihr Leben mit euch teilen. Jede Woche lassen sie euch an ihrer neuen Lebenszeit mit Baby teilhaben und geben ganz persönliche Einblicke: Was hat der Sprössling diese Woche Tolles gelernt? Wie geht es den jungen Eltern mit dem kleinen Knirps? Welche Herausforderungen begegnen den Neu-Mamas und Neu-Papas mit ihrem Neugeborenen? In den Baby-Tagebüchern seid ihr live dabei, von ersten Arztbesuchen bis zu holprigen Gehversuchen. Ob liebenswert chaotisch oder rührend besinnlich: Immer erhaltet ihr einen unverfälschten, authentischen und persönlichen Einblick in das aufregende Leben einer Jungfamilie.

29. Woche

Heute gut, morgen besser

Familien sind komplex. Erziehung ist kompliziert. Alles ist eine Entscheidung. Wir pflanzen heute einen Baum, die Früchte ernten wir morgen.

Die größte Aufgabe eines jeden Tages als Elternteil ist es, seine Gedanken und Handlungen dahingehend zu hinterfragen, ob sich das affektive Verhalten in einer Stresssituation parallel zu dem theoretisch erwünschten und präferierten Erziehungsstil verhält. Denn während emotionale Prozesse im Leben verhindern, dass kluge und wissenschaftlich fundierte Strategien die Oberhand gewinnen, passiert immer noch das Leben.

Es ist Onkel-Sonntag. Smilla möchte Laufrad fahren. Jeppe schläft und bleibt mit Tim zuhause. Mit Regenklamotten, Gummistiefeln und Reflektoren ausstaffiert gehen wir zu dritt raus. Die neongelbe Weste mit dem Regenbogen ist gut zu sehen im trüben Grau des diesigen Herbstnachmittags. Wir laufen mit den Füßen durchs raschelnde Laub. Viele Bäume haben bereits all ihre Blätter abgeworfen. Nur noch wenige Wochen bis Weihnachten.

Wir reden, werfen Steine und Blätter in die Alster, laufen weiter, reden, pausieren, reden weiter. Smilla rollt einige Meter voraus, schaut sich die Möwen an, sammelt einige Kastanien. Mein Bruder Mathis ist ziemlich exakt drei Jahre jünger als ich und Lehrer. Theoretisch weiß er also ein bisschen was über Kinder, aber auf einer völlig anderen Ebene. Außerdem sind seine Schüler einige Jahre älter – das macht viel aus.

Als Smilla keine Lust mehr hat, versuche ich zu motivieren. Ich zeige ihr, wie weit wir noch laufen müssen, erkläre ihr Sachen über Bäume, Tiere, Menschen, erfinde kleine Spiele wie Hürdenlauf und Hüpfcontest und bleibe hart, als sie immer wieder erklärt getragen werden zu wollen. Natürlich bin auch ich irgendwann genervt. Ich erkläre dennoch freundlich, dass wir nach Hause zu Jeppe müssen, denn bestimmt hat unser Baby inzwischen Hunger. Ich erkläre simpel, dass es keine Laufradausflüge geben kann, wenn der Rückweg stets nur widerwillig bewältigt wird. Ich erkläre bestimmt, dass ich mit Rücksicht auf meinen eigenen Körper keine Kinder tragen möchte, die bereits selber laufen können. Ich versichere ihr, dass ich weiß, dass sie müde ist. Dann schließen wir eine Verabredung: Weiter bis zum Ende des Wegs und über die Brücke bis zum Hüpfstein, danach reiten wir die letzten Meter huckepack nach Hause.

Noch vor wenigen Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich so viel Geduld aufbringen könnte. „Ihr macht das echt gut“, sagt mein Bruder, und meint dabei Tim und mich. Dabei hadern wir tagtäglich, stellen vieles infrage, fühlen uns immer wieder schuldig. Er selbst wäre schon längst autoritär, laut und vermutlich auch wütend geworden, vermutet er. Autoritär? Bin ich auch, schließlich bestimme ich hier gerade was passiert – nur eben nachvollziehbar für Zweijährige und so nett ich eben kann. Laut? Der Impuls ist da, ich unterdrücke ihn. Wütend? Irgendwo in meinem Inneren fühle ich mich unheimlich getriggert, aber ich gebe diesem Gefühl keinen öffentlichen Raum.

Ich erkläre, dass ich möchte, dass unsere Kinder sich gesehen fühlen. Dass sie und ihre Gefühle wichtig und richtig sind. Dass ich möchte, dass sie durch unser Verhalten eine gute Basis für ihren späteren Umgang mit Konflikten erlernen. „Wow, gar nicht so einfach“, findet mein Bruder. In seiner Rolle als Lehrer ist er übrigens gut. Bestimmt aber fair, autoritär aber trotzdem zu allen Schandtaten und Kompromissen bereit. Engagiert und interessiert, anleitend und wegweisend. Aber das hier ist etwas ganz anderes.

Interessanterweise neigen wir beide zu ähnlichen Verhaltensweisen. Logisch, denn wir haben dieselbe Herkunftsfamilie. Und diese, so weiß man aufgrund hinlänglich bekannter und repräsentativer Forschung, hat einfach eine unheimliche Macht auf das eigene Verhalten im Erwachsenenalter. Was man im Umgang miteinander erfahren hat, welche Anregungen es im Alltag seitens der Eltern und engen Bezugspersonen gab und welche Werte vorherrschten, all das hat unheimlichen Einfluss auf uns und unser ganzes Leben. Optimal ist eine Umgebung, die stark positiv emotional, zugleich sehr anregend und dazu wenig normativ und autoritär aufgeladen ist.

Bei uns war es sehr autoritär und bisweilen eher negativ emotional. Dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen innerhalb des engen Familienkreises. Das das alles relativ spurlos an uns vorübergezogen ist, scheint beinahe wie ein Wunder. Allerdings merke ich in meiner Rolle als Mama oftmals, welche Verhaltensweisen mich über alles triggern. Ich muss sehr stark gegen mein erlerntes Verhalten ankämpfen, um unnötiger Unzufriedenheit und Wut keinen Platz einzuräumen. Jeden Tag bin ich mit diesem Leben beschäftigt, das vor einer Ewigkeit stattgefunden hat. Mehrmals täglich muss ich mein Verhalten regulieren. Das ist unsichtbare und harte Arbeit.

Die Treppenstufen im Hausflur läuft Smilla ohne zu murren hoch. Wir begrüßen Jeppe, der sich wahnsinnig freut und im Flur auf uns zu robbt. Sie zieht ihre Schuhe aus, verabschiedet sich von Onkel Mathis, und nach einer halben Geschichte mit ihrer Lieblingsmaus schläft sie friedlich ein. Ohne unseren Kompromiss am Ende des Spazierwegs, ohne liebevolle und erklärende Worte hätte das so nicht geklappt. Es lohnt sich also, aber es ist auch anstrengend.

Früher war es leicht: Erwachsene hatten immer Recht, Kinder hatten nichts zu sagen, es galt das Wort des Stärkeren. Völlig irre und somit kein Wunder, dass die Generationen vor uns keinen adäquaten Umgang mit den eigenen Gefühlen und denen anderer Personen erlernt haben.

Unser dauerfröhliches Baby und unser kluges und selbstbestimmtes Kleinkind zeigen uns, dass irgendwas von dem richtig zu sein scheint, was wir tun. Wenn die beiden irgendwann groß sind und positiv auf diese Familienzeit zurückblicken können, würde ich mich sehr freuen.



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In diesem Beitrag geht's um:

Familie, Erziehung, Trigger, Gefühle, Kompromiss, Onkel