Expertin
Claudia Müller-Quade, Co-Leiterin einer Wiesbadener Erziehungsberatungsstelle.
Familie - Die Rollenverteilung ist überholt
kidsgo: Die Ansprüche an die Familie haben sich im Vergleich zu früheren Zeiten enorm gewandelt. Was sind die Ursachen?
Claudia Müller-Quade: Immer mehr Frauen sind berufstätig und wollen nicht mehr in der klassischen Rollenverteilung leben, aber gleichzeitig gute Mütter sein. Sie wollen – ebenso wie Väter – perfekt sein und zwar in allem: Beruf, Erziehung, Status, Freizeit. Das stresst natürlich. Außerdem akzeptieren heutige Eltern oft die eigenen Eltern als Vorbilder nicht mehr. Dadurch fehlen ihnen die Rollenmodelle und damit auch die Ideen zur Erziehung. Sie behandeln ihren Nachwuchs wie kleine Erwachsene. Erziehung wird dabei oft als autoritäre Unterdrückung gesehen und nicht als notwendige Maßnahme, um dem Kind den Weg ins Leben zu zeigen. Sie bitten und betteln oft, anstatt dem Kind in bestimmten Situationen klare Anweisungen und damit eine Richtung zu geben.
"Klare Grenzen setzen"
kidsgo: Welche Lösungswege gibt es?
Claudia Müller-Quade: Klare Grenzen setzen! Allerdings nur da, wo sie auch dem Kind sinnvoll erscheinen und erforderlich sind. Werden diese nicht eingehalten, sollten logische Konsequenzen auf der Handlungsebene folgen. Grundsätzlich sollten Eltern weniger diskutieren und erklären. Es reicht, wenn man dem Kind seine Beweggründe einmal verständlich mitgeteilt hat.
kidsgo: Was sind allgemein die größten Stressfaktoren für Familien?
Claudia Müller-Quade: In erster Linie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für beide Elternteile, wobei Beruf und Kinder im Vordergrund stehen. Dies geschieht auf Kosten der Paarbeziehung. Hinzu kommt der hohe Anspruch, die kindlichen Interessen optimal zu fördern. Kinder haben heute einen Wochenplan wie Erwachsene mit Schule, Klavierunterricht, Sporttraining und so weiter. Selbst am Wochenende gibt es kaum Ruhephasen ohne „Programm“. Dies gilt für die Eltern genauso wie für die Kinder. Hinzu kommt, dass immer mehr Mütter spätgebärend sind und damit das Alter der Großelterngeneration steigt. Oft benötigen dann die eigenen – manchmal schon dementen – Eltern ihrerseits Betreuung durch ihre erwachsenen Kinder. Das ist dann eine enorme Doppelbelastung.“
kidsgo: Also stressen Eltern sich vor allem selbst?
Claudia Müller-Quade: Einerseits ja – wie eben erwähnt –, aber der Stress kommt auch von außen: Es gibt viel Konkurrenz unter den Eltern, ihre hohen Erwartungen an ein gutes Elternsein zu erfüllen.
kidsgo: Wie kann man gegensteuern?
Claudia Müller-Quade: Das Programm kürzen! So hat jedes Familienmitglied mehr Freiräume. Kinder dürfen ruhig mal Langeweile spüren. Dies regt ihre Eigenkreativität an. Außerdem sollten Eltern mehr Zeit für die Pflege der Paarbeziehung einräumen. Man muss da kein Schuldgefühl bekommen, schließlich ist das Paar der „Baumeister“ einer Familie.
kidsgo: Frau Müller-Quade, wir danken Ihnen für das Gespräch.