Ein Mann stellt sich bei REWE hinter uns an der Kasse an. Nele schreit. Er konstatiert "Das Kind hat Hunger, warum geben Sie ihm nicht endlich etwas zu essen?"
Hallo, ihr Lieben!
Heute will ich euch gegenüber 'mal ganz offen sein, was meinen Umgang mit unseren Töchtern angeht.
Ich bin eine Rabenmutter!
Ich weiß nicht, was meinen Kindern fehlt bzw. gut tut. Das wissen nur Außenstehende. Trotz des eindeutigen Hinweises in der REWE-Kassenschlange gab ich Nele nicht die Flasche. Ich entfernte einen Krümel, der ihr beim heftigen Wedeln mit der Laugenbrezel ins Auge gefallen war!
Schon bei der Großen erfuhr ich von diversen anderen Müttern, dass ich mich zu wenig an Vorgaben der Babywissenschaft halte. Jetzt mit Zwillingen bekomme ich täglich mindestens ein halbes Dutzend Male - zum Teil von wildfremden Menschen - die Leviten gelesen, weil ich mich an die eine oder andere unumstößliche Erziehungsmaxime nicht halte. Ja, ich bekenne mich dazu: Ich beachte nicht alle mir bekannten Erziehungsregeln und gefährde möglicherweise Gesundheit und Psyche meiner Kinder. Dazu im Folgenden mein detailliertes Geständnis:
1.) Ich habe die Zwillinge entgegen der WHO-Empfehlung nicht die ersten 6 Monate voll gestillt.
Die ersten drei Monate gab es nur Muttermilch, dann habe ich zugefüttert, weil meinen schnell wachsenden Mäusen die von mir produzierte Menge einfach nicht reichte. Das führte heute beim Babyschwimmen zu einem entsetzten Aufschrei einer anderen Mutter "hast du keine Angst vor Allergien und sonstigen Spätfolgen?!"
2.) Ich füttere nicht nur eine Sorte Milchnahrung.
Obwohl in allen Foren, Facebookgruppen und Krabbelkursen alle Mütter darüber streiten, welche Milchnahrung die beste ist, sind sich alle einig, dass man zwischen den Marken nicht wechseln sollte. Ich kaufe, was an Markenware grade im Regal steht, ohne dass ich mit drei unruhigen Kindern erst den ganzen dm abklappere, bis ich jemanden finde, der mir murrend und kompliziert ein Paket der grade 'mal wieder vor Plünderkäufen geschützten Babymilch aus dem Lager kramen kann. In der Schweiz und in Italien bekamen die Kleinen sogar einheimische Produkte in die Flasche.
3.) Bei mir gibt es keine Mahlzeiten nach der Uhr.
Wer Hunger hat, bekommt auch früher etwas, wer satt ist, muss nicht essen. Auch wenn das nach Auffassung einer Freundin dazu führt, dass meine Kinder später eher zu FastFood tendieren als zum Essen am Familientisch.
4.) Eine planvolle Beikosteinführung findet nicht statt.
Mehrere längere Vorträge anderer Mütter am Rande und nach diversen Gruppen habe ich über mich ergehen lassen. Ja, ich weiß, dass am Tag, an dem das Kind vier Monate alt ist, das erste Mal 2-3 Löffelchen Pastinake gefüttert werden müssen, am nächsten und übernächsten Tag auch, dann drei Tage mit Kartoffel gemischt, usw. natürlich nur Bio-Pastinake, selbst gekauft, selbst gekocht und selbst püriert. Ich füttere Nele, die schon Interesse hat, mittags gerne 'mal weiße Karotte, 'mal Pastinake, 'mal Kartoffel + Gemüse, 'mal ein Menü mit Fleisch oder 'mal etwas von meinem Teller (kleingedrückte Kartoffel, Möhre, Nudel, Banane,...), 'mal selbst gekocht, 'mal aus dem Gläschen. Morgens darf sie etwas von meinem Porridge abhaben, den Rest des Tages wann immer uns danach ist und wir dran denken, gibt es Gläschenobst oder sie darf an einem Apfelschnitz, einer Brotkruste oder einem Zwieback lutschen. Sie ist glücklich damit und ihr bekommt alles. Cari ist nicht interessiert, darf also weiter Milch trinken.
5.) Meine Kinder haben schon vor dem zweiten Geburtstag Kontakt zu Süßigkeiten gehabt.
Eigentlich hatte ich mir zumindest dies vorgenommen, scheiterte aber am Vater der Mädels, der alle schon im 2. und 3. Monat erstmals an seinen Lakritzschnecken lutschen ließ.
6.) Ich habe keine Kügelchen in der Handtasche.
Das liegt in erster Linie daran, dass ich nur etwa 2-3 x im Jahr überhaupt eine Handtasche dabei habe. Aber auch sonst habe ich nicht bei jedem Sturz Arnika-Kügelchen parat. Die zahnende Cari kommt auch ohne Kügelchen klar, dafür mit viel Trost plus gekühltem Beißring, meinen Fingern und anderen Dingen, auf denen Sie herumkauen kann. Und in meinem Alter wäre ich ohnehin auf dem Spielplatz zu langsam für den Wettbewerb "wer holt am schnellsten die Kügelchen aus der Wickeltasche", am besten noch während (!) das Kind stürzt, noch bevor es im Sand aufschlägt.
7.) Bei uns muss kein Kind das Schlafen lernen.
Unsere Nachbarin ist der Auffassung, ich müsste die Kinder einfach zu einer festen Zeit hinlegen und so lange schreien lassen, bis sie einschlafen, dann lernen sie, dass ab einer bestimmten Zeit geschlafen werden muss. Ja ja, das Buch habe ich auch gelesen, bin aber nicht sicher, ob ich es im Regal bei "Horror" oder "Thriller" einsortieren soll. Ich gehe ja auch nicht jeden Abend zur exakt selben Zeit schlafen, warum also meine Kinder? Wer noch Durst hat, bekommt etwas zu trinken. Wer eine Geschichte hören will, bekommt vorgelesen. Und wer noch Kuschelbedarf bis 21:15 Uhr hat, wird in den Schlaf gekuschelt!
8.) Meine Kinder mussten nicht liegen, bis sie aus eigenem Antrieb frei sitzen können
Heute morgen beim Babyschwimmen setzte die Trainerin ein Baby kurz auf den Beckenrand, damit es aus eigenem Impuls in die Arme seiner Mutter springen kann. Die Trainerin und alle Teilnehmer(innen) des Kurses erfuhren daraufhin von einer entsetzten anderen Mutter, dass ihre Tochter aber an dieser Übung keinesfalls teilnehmen werde, weil sie ja noch nicht frei sitzen kann. Meine Töchter werden mich später einmal wegen orthopädischer Spätfolgen verklagen können, denn ich habe sie nicht nur diese Übung mitmachen lassen, sondern sie dürfen auch sonst immer 'mal wieder für ein paar Minuten sitzen, wenn sie mir signalisieren, dass ihnen das Liegen zu fade ist. Um ihre Chancen vor Gericht später zu erleichtern, liefere ich gleich ein Beweisfoto mit, auf dem die beiden beim Frühstück in unserem letzten Hotel in Italien zu sehen sind. Auf dem Rücken liegend schrien beide, weil sie etwas sehen wollten. Wir setzten sie hin und nach wenigen Minuten schliefen beide glückselig.
Ihr Lieben, ich könnte diese Liste noch bis zum Punkt 352.) fortsetzen. Die Themen sind ja unerschöpflich: von Impfen und Bauchlage über Reboarder und Familienbett bis hin zu Schnuller, BLW und Schlafzimmertemperatur. Ich wollte nur in einer für uns eher ereignislosen Woche einmal zum Besten geben, was mir an Erziehungsfehlern allein in den letzten drei Tagen vorgeworfen wurde. Meiner ganz persönlichen Meinung nach helfen Humor, Gelassenheit und Intuition oft viel weiter als das sture Vorgehen nach Entwicklungskalendern und sonstigen Ratgebern. Darüber habe ich mir beim ersten Kind viel zu oft Gedanken gemacht, geholfen haben die Lehrbücher und gut gemeinten Erziehungstipps außenstehender Personen meist gar nicht.
In diesem Sinne wünsche ich euch eine gelassene letzte Oktoberwoche.
Eure Ingrid
Bild: privat