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Bedürnisorientierte Elternschaft: Susanne Mierau im Gespräch über ihren Ratgeber "Frei und unverbogen"

„Ratgeberkönigin“ nennt sie die Berliner Zeitung. Susanne Mierau berät und schreibt aus tiefster Überzeugung. Ihre Mission ist eine Erziehung, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Ohne Druck und Macht. „Wie gelingt das?“, haben wir die Autorin gefragt.

In diesem Artikel:

Unsere Expertin

Susanne MierauBindung ist Susanne Mieraus Lebensthema. Als Diplom-Pädagogin für Kleinkindpädagogik arbeitete sie an der Freien Universität Berlin mit den Schwerpunkten Elternberatung und Qualität in Kindertageseinrichtungen sowie als Projektmanagerin im Forschungsprojekt „Familienzentren NRW“. Sie absolvierte zahlreiche Weiterbildungen zur Familienbegleitung – zum Beispiel GfG-Familienbegleitung, DAIS-Stillbegleitung, Trageberatung und eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Seit 15 Jahren ist Susanne Mierau in der Elternberatung und -begleitung selbstständig. Sie ist Mutter von drei Kindern und unterstützt Familien durch zahlreiche Bücher, Artikel und das Online-Magazin geborgen-wachsen.de.

Interview mit Susanne Mierau

kidsgo: Frau Mierau, Sie fordern Eltern zu einer veränderten Haltung ihren Kindern gegenüber auf: Sie so akzeptieren, wie sie sind. Ihnen nichts aufdrücken, damit sie den eigenen Erwartungen entsprechen. Stattdessen sollen wir unseren Kindern zuhören, ihnen auf Augenhöhe begegnen. Ist es wirklich so einfach? Oder ist genau das unglaublich schwer?

Susanne Mierau: Eigentlich hört es sich erst einmal so einfach an, und es entspricht ja auch einem Wunsch, den wir als Erwachsene oft in uns tragen: Dass andere Menschen uns so sehen und annehmen, wie wir eben sind. Dass sie liebevoll auf unsere Besonderheiten achten, und uns das Gefühl geben, respektiert und geachtet zu sein mit unserer individuellen Persönlichkeit.

Und auch wenn sich das so einfach anhört, ist es dennoch ganz schwer: Einerseits, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der mit Stereotypen und Vorstellungen gearbeitet wird, an denen wir und andere sich orientieren sollen: wie wir aussehen, welchen Rollenerwartungen wir entsprechen sollen, was welche Menschen anziehen dürfen oder nicht, welche Vorlieben für welches Geschlecht in Ordnung wären und welche nicht.

In sehr vielen Bereichen gibt es einen Anpassungsdruck, den wir vielleicht erst einmal als normal wahrnehmen, weil wir ihn selbst auch so erlebt haben. Auch der Leistungsdruck spielt da mit hinein: Schließlich soll aus den Kindern ja etwas werden, sie sollen es gut haben, sich in dieser Gesellschaft behaupten. Wer dann aber ein eher ruhiges, schüchternes Kind hat, fühlt sich schnell unter Druck, dieses mehr forcieren zu müssen und hat weniger einen ressourcenorientierten Blick darauf, welche Vorteile auch gerade in einem solchen Temperament liegen.

Deswegen: Was so einfach klingt, ist erst einmal nicht so einfach, weil wir uns befreien müssen von bestimmten Glaubenssätzen und verinnerlichten Mustern.

Wie schaffen es Eltern, die eigenen Verhaltensmuster zu erkennen? Wie können wir diesen negativen Mustern unserer Kindheit entkommen?

Mierau: Es ist nicht immer einfach, sich der eigenen Kindheit zu stellen, denn es schmerzt auch, zu erkennen, dass hier und da vielleicht nicht alles so gelaufen ist, wie es wünschenswert gewesen wäre. Und dass die Personen, die uns eigentlich lieben, respektieren und stärken sollten, es an der ein oder anderen Stelle vielleicht nicht ganz so gut gemacht haben. Es geht aber bei der Reflexion der Kindheit nicht um die Schuldfrage, sondern darum, was wir nun anders machen können.

Sie sagen, es kann schmerzhaft sein, sich mit der Kindheit zu beschäftigen. Schaffen Eltern das allein?

Mierau: Manchmal braucht es auch therapeutische Unterstützung, um mit den eigenen Mustern der Kindheit abzuschließen, beispielsweise wenn wir merken, dass wir Probleme mit Wut und Aggression haben und unsere Kinder öfter anschreien, beschämen, bestrafen oder gar körperliche Gewalt anwenden.

Gewalt muss nicht immer körperlich sein. Sie decken in Ihrem Buch auch versteckte Gewalt auf, zum Beispiel in Belohnungssystemen, etwa in der Sauberkeitserziehung. Warum ist das problematisch?

Mierau: Belohnungssysteme haben verschiedene Punkte, die sie in der Regel unbrauchbar machen für den Alltag – durchaus gibt es aber auch Kinder, die davon profitieren können, beispielsweise Kinder im neurodiversen Spektrum (bei neurobiologischen Entwicklungsstörungen, z.B. ADHS oder Autismu, Anm. d. Red.). Für die Alltagsgestaltung jenseits davon sind sie aber eher ungünstig.  Zunächst einmal geht es dabei auch um Werte: Kinder sollen lernen, sich aus eigenem Antrieb einzubringen, sozial zu sein. Dass das nicht in ihrer Natur liegen würde, ist ein verbreiteter Irrtum: Unsere Existenz baut auf einem sozialen Miteinander auf, und auch Kinder sind bereits sozial und lernen durch unser Verhalten, gut mit anderen umzugehen. Durch Belohnungssysteme aber lernen sie, nur auf einen Anreiz hin ein erwünschtes Verhalten zu zeigen.

Buchtipp

Frei und unverbogen Susanne MierauFrei und unverbogen
Kinder ohne Druck begleiten und bedingungslos annehmen

Viele Eltern wollen ihre Kinder bedürfnisorientiert begleiten und auf Augenhöhe mit ihnen umgehen. Klingt gut, ist aber gar nicht so einfach. Die Pädagogin Susanne Mierau zeigt uns, wie es gelingen kann. In Praxisteilen kommen Eltern ihren Erfahrungen und gesellschaftlichen Vorstellungen auf die Schliche: durch Fragen, Zeitreisen, Reflexionen mit Platz für Notizen. Beispiele aus dem Alltag mit Kindern machen deutlich, wie eine Begleitung ohne Druck und Gewalt aussehen kann.
Ein bereicherndes Buch, das sich gut lesen lässt und wichtige, nachhaltige Denkanstöße liefert!

Autorin Susanne Mierau
Beltz Verlag, 2021

Aber ist es nicht schön, für etwas belohnt zu werden, Anerkennung zu bekommen?

Mierau: Natürlich ist für Kinder Anerkennung wichtig. Diese geben wir als Bezugspersonen besonders durch Zeit und Aufmerksamkeit, beispielsweise indem wir die Anstrengung, die es gekostet haben muss, auf das Klettergerüst zu klettern, hervorheben. Statt ein „Toll gemacht!” zu rufen und uns dann wieder in ein Buch oder unser Smartphone auf der Spielplatzbank zu vertiefen, wenn das Kind ruft „Schau mal, ich bin ganz oben!”, können wir sagen „So hoch bist du ja noch nie geklettert” oder „Jetzt kannst du von da oben ganz weit schauen!” oder Ähnliches. Kinder wollen gesehen werden, ihren Stolz mit uns teilen, ihre Anstrengung und Entwicklung. Das können wir mit einem Lächeln, einem Blick oder lieben, anerkennenden Worten besser erreichen als durch ein Belohnungssystem.

Geben Sie uns bitte ein Beispiel: Wie stellen wir die Bedürfnisse des Kindes in den Vordergrund?

Mierau: Wenn Eltern merken, dass es bestimmte Themen gibt, die immer wieder zu Konflikten führen, lohnt sich ein Blick auf Glaubenssätze dahinter. Beispielsweise wenn es immer Stress am Esstisch gibt, weil das Kind nicht aufisst, zu viel kleckert oder zu viel isst. Dann können wir uns zunächst fragen, warum ist es mir so wichtig, dass … Und im nächsten Schritt reflektieren: Ist es wirklich wichtig, dass …

Wie können wir das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit bei Kindern fördern?

Mierau: Der Blick vieler Eltern hat sich in den vergangenen Jahren darauf gerichtet, wie wichtig Nähe und Geborgenheit sind. Dabei wurde allerdings manchmal aus dem Blick gelassen, dass dies nur eine Seite der Medaille ist. Für eine sichere Bindung brauchen Kinder neben dem Wissen, dass die Bezugsperson(en) ein sicherer Hafen sind, auch die Freiheit, von diesem Hafen aufzubrechen und auch wieder zurückzukommen. Das ist es, was wir ihnen unbedingt auch ermöglichen sollten: eigene Erfahrungen, sich ausprobieren, Abenteuer. Wenn sie spüren, dass sie ein Hindernis bewältigen können, gehen sie auch optimistischer an die nächste Herausforderung heran.

Uns stehen richtig große Aufgaben bevor: Klimakrise, Flüchtlingsströme, Integration, Digitalisierung und neue Technologien. Kurzum: Die Welt retten. Dazu braucht es Visionen. Und die können nur flexible, kreative, global denkende Kinder haben. Wenn wir unsere Kinder bedürfnisorientiert begleiten, werden sie diese Aufgaben dann wuppen?

Mierau: Leider kann ich kein Versprechen dazu abgeben, dass die Kinder, die so aufwachsen, es wirklich schaffen, das Ruder herumzureißen und die großen Probleme der Zukunft bewältigen zu können. Aber wir können ihnen durch diese Art des Aufwachsens die besten Rahmenbedingungen mitgeben, um eine gute Chance zu haben, mit den Herausforderungen der Zukunft gut umzugehen. Wir sprechen dabei davon, die Resilienz – also die psychische Widerstandsfähigkeit – der Kinder zu stärken: Durch einen respekt- und liebevollen Umgang können wir ihnen ein positives Selbstbild vermitteln. Wenn wir ihnen neben den Wurzeln auch die Flügel geben, sich auszuprobieren und an Herausforderungen jetzt im noch geschützten familiären Feld zu wachsen, gehen sie auch später an Herausforderungen zuversichtlicher heran. Und das werden unsere Kinder brauchen: den Mut, mit den großen Fragen ihrer Zeit kreativ umzugehen und den Glauben, sie bearbeiten zu können.