Niemand ist zum Genie geboren
Die Palette der Angebote reicht von Babyschwimmen über Elternprogramme wie PEKiP, Fenkid, Delfi und ElBa bis hin zu Sprachkursen für Säuglinge. Die Anbieter werben damit, das Kind durch ihre Arbeit zu einem glücklichen und erfolgreichen Menschen zu machen. Als Mutter und Vater steht man dazwischen und es wird einem ganz schwindelig vor lauter sensorischer und motorischer Förderung, Sprachsensibilisierung via Immersion oder Wahrnehmungsschulung durch Total Physical Response und man fragt sich: Entwickelt mein Baby nur dann ein gesundes Körperbewusstsein, wenn es seinem eigenen Forschungsprojekt nachgehen kann? Wie viel entwicklungsspezifische Programme und Projekte braucht es, um groß und stark zu werden? Und wie viele Kurse sollte man belegen? „Weniger, als Veranstalter von Babykursen anbieten“, meint Dr. Jörg Schefels, Kinderarzt, Facharzt für Neonatologie und Kinderintensiv medizin und Berater beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Und er steht mit dieser Meinung nicht alleine.
Auch die Züricher Lernforscherin Prof. Elsbeth Stern erklärt in der Monatsschrift für Kinderheilkunde, dass Frühförderung Kinder nicht automatisch zu glücklicheren und erfolgreicheren Menschen mache und Eltern den Einfluss von Frühförderung auf die tatsächlichen Begabungen ihrer Kinder nicht überschätzen sollten. Heißt: Wer als Kleinkind bereits zu Spanisch- und Chinesisch-Kursen geschickt wird, muss später kein Sprachgenie werden.
Eine gute Förderung braucht Bezug zur Lebenswirklichkeit
„Deutschland befindet sich im Bildungswahn, getrieben von der Angst, irgendein Bildungsfenster zu verpassen“, sagt Dr. Armin Krenz, Buchautor, Psychotherapeut und Dozent am Kieler Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik.
Frühförderung
Neben der frühen Entwicklungsförderung kleiner Kinder, zu der Spiel- und Lernangebote zählen, ist der Begriff Frühförderung auch ein Sammelbegriff für pädagogische und therapeutische Maßnahmen. Diese werden Kindern zuteil, die körperlich, geistig und seelisch in ihrer Entwicklung verzögert sind.
Man unterscheidet die allgemeine und spezielle Frühförderung. Die allgemeine Frühförderung richtet sich an Kinder mit seelischen und kognitiven Beeinträchtigungen. Die spezielle Förderung richtet sich an Kinder mit Sinnesbehinderungen wie Blindheit oder Gehörlosigkeit. Der Bedarf einer Frühförderung wird in der Regel bei den wiederkehrenden Untersuchungen durch den Kinderarzt festgestellt. Bei einer entsprechenden Diagnose überweist dieser an Experten und Beratungsstellen.
„Meinen Großen hab ich mit vier Monaten zum Babyschwimmen geschleppt, um etwas für seine Motorik und die Stärkung seiner Atmungsorgane zu tun. Bis eine Lungenentzündung die frühe Schwimmkarriere beendete. Sein jüngerer Bruder hat schon geschrieen, wenn er nur in die Nähe von Wasser kam und so haben wir jeglichen Gedanken an einen Schwimmkurs verworfen. Mein dritter Sohn freut sich, wenn seine Brüder ihn in der Badewanne bespaßen. Auch die musikalische Früherziehung hat die beiden Großen nicht nachhaltig zur Musik geführt und schon gar keine begnadeten Musiker aus ihnen gemacht“, beschreibt Anette Laudan ihre Versuche zum Thema Frühförderung. „Ganz normal“, sagt Kinderarzt Dr. Schefels. „Wir kommen halt nicht alle mit einem IQ von 130 auf die Welt und auch Menschen mit einer großen Sonderbegabung haben meistens einen Mangel auf anderen Gebieten.“
So stellt sich die Frage, was Bildung überhaupt heißt. Bildung soll uns dazu befähigen, irgendwann ein eigenständiges und eigenverantwortliches Leben führen zu können. Bildung zielt somit vielmehr auf eine breit angelegte Persönlichkeits- entwicklung als auf das Anhäufen von Wissen ab. Letzteres bezeichnet Dr. Krenz als Bildung aus zweiter Hand und spricht in Zusammenhang von „Belehrungspädagogik“, die meist zulasten einer vom Kind selbstmotivierten Entwicklung ginge.
Eine gute Frühförderung, darüber sind sich die Vertreter der Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin einig, sollte immer eingebettet sein in den Lebensalltag der Kinder und einen direkten Bezug dazu haben. Ein Kind, das von einem polnischen Aupair ein paar Brocken Polnisch lernt, wird davon sicher profi tieren, da es erkennt, wie schön es ist, sich mit einem anderen Menschen in dessen Muttersprache unterhalten zu können. Deutsche Eltern hingegen, die mit ihren Kindern Englisch sprechen, um es für ein späteres Dasein in einer globalisierten Welt zu wappnen, erreichen nicht annähernd denselben Effekt. Denn um eine Sprache wie eine Muttersprache wahrnehmen zu können, braucht es die jeweilige Sprachmelodie (Prosodie) und die beherrschen die deutschen Eltern nur selten. Zudem erschließt sich für ein Kleinkind kein Sinn darin, warum es mit seinen Eltern in einer Fremdsprache kommunizieren sollte und auch das hat maßgeblichen Einfluss auf den Erfolg des Lernens.
Kinder müssen spielen, spielen, spielen
Selbstverständlich brauchen Kinder Förderung. Das kindliche Gehirn ist so gestrickt, dass es ständige Reize aus der Umwelt braucht, damit sich die unmittelbar nach der Geburt noch lichten Nervennetzwerke ausreichend verdichten. Und für bestimmte Fähigkeiten, wie zum Beispiel den Spracherwerb gibt es besonders sensible Zeitfenster. Darum brauchen Kinder von Geburt an Menschen, die mit ihnen reden, die sich ihnen aufmerksam zuwenden und die ihnen viele, viele Gelegenheiten bieten, eigene Erfahrungen zu machen. Am besten im Spiel.
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Der erste Job des Babys sei also das Spiel. Im Spiel lernen Kinder die Schlüsselqualifikationen für ihr weiteres Leben. Im Spiel lernen sie praktisch nebenbei, wie die Welt funktioniert, wie es ist, sich mit anderen einigen zu müssen und wie toll es sich anfühlt, wenn man eine eigene Idee in die Tat umsetzen kann. „Im Spiel“, so Dr. Krenz, „unterhalten Kinder sich innerlich mit sich selbst“. Sie lernen aus erster Hand durch die positive Selbsterfahrung: Ich kann mit meinen Möglichkeiten in meinem Umfeld etwas bewirken.
Natürlich ist nicht alles, was unter dem Stichwort „Frühförderung“ angeboten wird, Unsinn und schädlich. Viele Kurse gerade im Kleinkindalter zielen darauf ab, durch gemeinsame Aktivität die Eltern-Kind- Bindung zu unterstützen und eine Bildung durch Bindung führt nachweislich zu besseren kognitiven Leistungen als eine stupide Wissensfütterung. Wem das Kinderlieder singen in der Gruppe mehr Spaß macht, kann dort gut aufgehoben sein. Katharina hat mit ihrer sechs Monate alten Tochter Amélie einen Kurs für Zwergensprache besucht. Seitdem kommunizieren die beiden begeistert über Gebärden miteinander und man sieht ihnen an, wie gut Mutter und Tochter sich verstehen. Genauso viele Mütter und Väter gibt es, die glücklich von ihren PEKiP-Kursen berichten und ihrem Kind damit ganz sicher keinen Schaden zufügen. Es ist wie so vieles eine Frage des Maßes. Kinder unter drei seien mit einem Termin pro Woche gut bedient und auch für ältere Kinder sollten es nicht mehr als zwei fixe Termine sein, meint Kinderarzt Dr. Schefels. Auf keinen Fall sollte man sich verrückt machen lassen.
Wer fördern will, sollte genau hinschauen
Fast alle Eltern kennen die Situation. Plötzlich werden scheinbar rundherum alle Kinder zum Englisch, zum Ballett oder zum Querdenkerclub angemeldet. Man selbst war eigentlich guten Willens, sich diesem Gruppendruck nicht zu unterwerfen, aber irgendwie will man das eigene Kind ja auch nicht allein dumm dastehen lassen. Sollte man auch nicht. Trotzdem oder gerade deshalb lohnt es sich, genau hinzuschauen.
Ein Kurs, der zum Kind und zu einem selbst passt, ist mehr wert als fünf Kurse, die man nur aus Prestigegründen belegt. Wer unsicher ist, was denn das Richtige ist, dem rät Dr. Schefels, er solle seinen Kinderarzt fragen, worin das Kind vielleicht noch ein bisschen Förderbedarf haben könnte.
Ansonsten ist eine gute Portion Gelassenheit angesagt. Das zumindest findet Susanne Kerndt, selbst dreifache Mutter und Leiterin eines Stillcafés. Sie möchte allen jungen Eltern Mut machen, ihren Weg mit ihrem Kind zu finden, ohne aufgedrückte Förderpläne und Programmstress. „Wer zu mir ins Café kommt, der kommt, weil er eine Tasse Kaffee trinken und sich mit anderen unterhalten will. Das ist ein ehrliches Anliegen.“ Die Babys sind natürlich dabei und es wird auch mit ihnen gespielt. Wirkliche Eltern-Kind-Bindung aber findet nun mal nicht in einer Kursstunde pro Woche, sondern in den vielen Stunden dazwischen statt. „Wirkliche Bildung und Förderung“, so sieht es auch Dr. Krenz, „ist eine Bildung mit Alltagssinn.“
Eine Bildung, die die kindliche Welt wertschätzt und das Kind in seiner Kinderwelt belässt, in der es von den Erwachsenen liebevoll begleitet wird.