Reflexe sind im Evolutionsprogramm enthalten
Katrin ist glücklich. Heute war sie zur Ultraschalluntersuchung bei ihrer Frauenärztin, alles ist in Ordnung. Ihr Baby hat sich heute von seiner schönsten Seite präsentiert: Schon in der 14. Schwangerschaftswoche konnte sie deutlich das Geschlecht erkennen und auch das Gesicht. „Ihr Baby kann schon allerlei Grimassen schneiden und seine Stirn runzeln”, hat ihre Gynäkologin erklärt. „Und es trainiert jetzt seinen Saugreflex, indem es am Daumen nuckelt.”
Auch der Greifreflex ist schon ausgebildet: Das erste Spielzeug, nach dem das noch Ungeborene greift, ist die Nabelschnur, die es mit seiner Mutter verbindet. Das Evolutionsprogramm läuft also – aus gutem Grund: Kaum ist Katrins Baby auf der Welt, muss es schnell ihre Brust finden und Milch trinken. Katrins Kind kann aber nicht nur saugen, sondern auch greifen und und sich festhalten, und es macht sogar seine ersten Laufübungen.
Frühkindliche Reflexe
Manche Reflexe verschwinden nach einer bestimmten Zeit, andere bleiben das ganze Leben lang.
Reflex - besteht bis
Saugreflex- 4-6. Lebensmonat
Schluckreflex - ein Leben lang
Suchreflex - 3. Lebensmonat
Greifreflex - Hand: 4-6., Fuß: 8-10. Lebensmonat
Moro-Reflex - 3-4. Lebensmonat
Schreitreflex - 8. Lebenswoche
Stehreflex - 4. Lebensmonat
Reflexe sind angeborene Bewegungsmuster
Babys können also schon erstaunlich viel, wenn sie das Licht der Welt erblicken. All diese Bewegungsmuster und -automatismen bereiten den Nachwuchs auf das Leben außerhalb des Mutterleibs vor, um sein Überleben zu sichern. Diese Reflexe sind unwillkürliche Reaktionen, die durch innere oder äußere Reize hervorgerufen werden. Sie laufen nach dem immer gleichen Muster ab, sorgen dafür, dass Babys von Anfang an aktiv und beweglich sind und unterstützen sie damit automatisch beim Aufwachsen. Manche der angeborenen Reflexe verschwinden in den ersten Lebensmonaten wieder, andere werden später durch koordinierte Bewegungen abgelöst oder bleiben, wie Gähnen oder Husten, ein Leben lang erhalten.
Der Saug- und Schluckreflex
Mit dem Saugreflex, den dein Baby bereits rund um die 26. Schwangerschaftswoche ausbildet und schon lange vorher mit Hilfe des Daumennuckelns geübt hat, stellt die Natur sicher, dass das kleine Menschenkind nach der Geburt an der Brust saugen und so eigenständig Nahrung aufnehmen kann. Somit ist er der wichtigste Reflex überhaupt, da er das Überleben und Gedeihen sichert. Mit etwas Glück kannst du sogar im Ultraschall beobachten, wie dein Baby das Saugen an seinen Fingern übt. Der Schluckreflex sorgt dafür, dass die Milch den richtigen Weg in die Speiseröhre findet – ein Reflex fürs Leben. Der Saugreflex hingegen wird nach und nach durch Nuckelbewegungen ersetzt, die das Kind dann auch selbst aktiv steuern kann.
Der Suchreflex
Der Suchreflex hilft dem Neugeborenen dabei, die Brust zu suchen und zu finden. Dafür bewegt dein Baby seinen Kopf so lange hin und her, bis es etwas findet, an dem es saugen kann. Berührst du sanft die Wange deines Neugeborenen, löst du dadurch den Suchreflex aus: Dein Baby dreht automatisch seinen Kopf in deine Richtung und öffnet den Mund.
Der Husten- und Atemschutzreflex
Freie Atemwege gewährleisten Husten- und Atemschutzreflex: Der Hustenreflex befreit die Atemwege von Fremdkörpern; er schützt uns für den Rest unseres Lebens vor Erstickung. Wenn an Babys Mund oder Nase Wasser gelangt, blockiert der Atemschutzreflex den Atemweg und schützt so die Lunge. Dieser Reflex verschwindet jedoch im Laufe der ersten sechs Monate.
Der Greifreflex
Der Greifreflex an Händen und Füßen ist ein Relikt aus früheren menschlichen Epochen. Er ermöglichte, dass sich ein Baby an seiner Mutter festklammern konnte, wenn diese sich bewegte. Diese "Umklammerungs-Reaktion" kannst du auch heute noch beobachten: Berührst du mit deinem Zeigefinger die Handinnenflächen deines Babys, macht es sofort eine Faust und umklammert deinen Finger so fest, dass du es sogar daran hochziehen kannst. Auch an den Füßen lässt sich dieses Bewegungsmuster beobachten: Bei Berührung beugen sich die Zehen und führen so eine Greifbewegung aus.
Sind alle Reflexe da?
Entwickelt sich mein Kind richtig? Reflexe spielen bei der Entwicklung eine wichtige Rolle. Daher werden bei den Vorsorgeuntersuchungen auch die Reflexe deines Kindes geprüft. Die 10 Vorsorgeuntersuchungen von Kopf bis Fuß: Was wird wann untersucht? Übersicht der Vorsorgeuntersuchungen als Download.
Der Mororeflex
Auch der sogenannte Moro-Reflex dient dem Festhalten. Er ist ebenfalls ein Relikt aus unserer evolutionären Vergangenheit und stellt ein sehr komplexes Bewegungsmuster dar. Erschrickt das Baby oder fällt sein Kopf plötzlich unsanft nach hinten, streckt es mit gespreizten Fingern ruckartig die Arme aus und zieht sie im Anschluss gleich wieder an. Dieses Reflexverhalten stellte ursprünglich sicher, dass sich das Baby bei einer plötzlichen Bewegung schnell an der Mutter festklammern konnte. Heute erinnert der Moro-Reflex die Eltern daran, mit dem Säugling behutsam und vorsichtig umzugehen. Sowohl der Greif- als auch der Moro-Reflex sind bei Babys von heute nicht mehr so stark ausgeprägt. Beide sind aber noch sehr gut bei jungen Menschenaffen im Zoo zu beobachten: Affenbabys klammern sich mit Hilfe dieses Reflexes im Fell ihrer Mutter fest.
Der Schreitreflex
Auch das Bewegungsmuster des Laufens hat uns Mutter Natur von Anfang mit in die Wiege gelegt. Wenn du dein Baby aufrecht hältst und seine Fußsohlen leicht einen Untergrund berühren, macht das Baby unweigerlich seine erste Schreitbewegungen. Dieser Schreitreflex verliert sich allerdings gegen Ende des zweiten Monats wieder. Das Bewegungsmuster des Laufens übt dein Baby dann beim Strampeln und trainiert dabei gleich noch seine Muskeln.
Der Kriechreflex
Ein weiterer Reflex, der deinem Baby später die Fortbewegung erleichtert, ist der Kriechreflex. Er stellt eine Vorstufe des Krabbelns dar. Darüber hinaus hilft der Stehreflex dem Baby, das Gleichgewicht zu trainieren. Setzt du dein Baby aufrecht auf eine Unterlage, spannen sich die Beine automatisch an.
All diese Reflexe trainieren die Muskeln deines Babys und fördern die Koordination. Ein Trainingsprogramm von Mutter Natur, das von alleine abläuft und zu wundervollen Ergebnissen führt!
Experten-Interview: Was Reflexe über Babys Entwicklung verraten
Ob Reflexe vollständig, asymmetrisch oder gar nicht ausgebildet sind, testen Kinderärzte in den Vorsorgeuntersuchungen. Daraus ziehen sie Rückschlüsse auf die Entwicklung des Babys.kidsgo befragte dazu den Frankfurter Kinderarzt Dr. med. Christoph Lotz:
kidsgo: Welche Reflexe testen Sie bei den ersten Untersuchungen?
Dr. Lotz: Im Grunde teste ich alle Standard-Reflexe und schaue auf das Gesamtbild der Bewegungsmuster. Bei der Untersuchung der Babys kontrolliere ich das gesamte physiologische Bewegungsmuster und ob die wesentlichen alterstypischen Reflexe adäquat vorhanden sind.
kidsgo: Was können Sie anhand der Reflexe erkennen?
Dr. Lotz: In erster Linie erkenne ich daran, ob das Grundbewegungsmuster der Kleinkinder in Ordnung ist. Ob beispielsweise die Motorik der Arme und Beine beidseitig symmetrisch ausgeprägt ist. Dazu schaue ich mir an, ob die Babys Auffälligkeiten oder zentrale Koordinationsstörungen zeigen, wie beispielweise eine einseitig fixierte Kopfhaltung oder auffällige Bewegungsmuster.
kidsgo: Und wenn ein Reflex nicht richtig ausgebildet ist? Besteht dann Handlungsbedarf?
Dr. Lotz: Ich überprüfe, ob der Reflex nur einseitig oder vollkommen symmetrisch nicht richtig ausgebildet ist. Außerdem beobachte ich, ob es sich nur um einen einzelnen Reflex oder die Summe von mehreren handelt. Wenn nur ein einzelner Reflex beiderseits nicht oder nur schwach ausgeprägt ist, ist das nicht weiter tragisch, das normalisiert sich in der Regel von selbst wieder. Bei Babys und Kleinkindern helfen oft schon Krankengymnastik oder einfache Turnübungen, um die Motorik und Koordination zu stabilisieren und zu trainieren. Wenn sich mehrere Auffälligkeiten finden, untersuche ich genauer, ob Defizite vorhanden sind, die weiterer Abklärung bedürfen.
kidsgo: Können Reflexe auch ganz fehlen?
Dr. Lotz: Reflexe sind nicht immer gleich stark auslösbar. Aber das ist nicht weiter schlimm, solange sie symmetrisch sind, also auf beiden Seiten in etwa gleich – selbst wenn sie nur schwach ausgeprägt sind. Deutliche Seitenunterschiede können auf eine schwerwiegendere Erkrankung hinweisen. Dann muss ein Kinderarzt genauer abklären, ob zum Beispiel eine neurologische oder auch muskuläre Erkrankung vorliegt.
Herzlichen Dank, Herr Dr. Lotz, für das Gespräch